Seit zwei Jahrzehnten sind US-Truppen in Afghanistan stationiert. Mit September ist Schluss. Auch die Nato-Länder und Partnernationen ziehen sich zeitgleich zurück.

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Es ist ein Abschied ohne Wenn und Aber, verbunden mit großer Symbolik. Spätestens am 11. September, exakt 20 Jahre nach den Terroranschlägen auf New York und Washington, soll er beendet sein, der längste Krieg der US-Geschichte. Nach intensiven Beratungen im Kreis seines Sicherheitskabinetts hat Joe Biden entschieden, den Abzug an keinerlei Vorbedingungen zu knüpfen. An dem Datum soll nicht mehr gerüttelt werden, was auch immer in Kabul, Kandahar oder Kundus passiert.

Nach der Ankündigung beschloss auch die NATO offiziell den vollständigen Truppenabzug aus Afghanistan. Die Außen- und Verteidigungsminister der 30 NATO-Länder einigten sich nach Angaben des Militärbündnisses am Mittwoch darauf, am 1. Mai "geordnet, koordiniert und überlegt" mit dem Truppenabzug zu beginnen. Alle NATO-Truppen sollen Afghanistan demnach "innerhalb weniger Monate" verlassen.

Biden bei seiner Ansprache.
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Zukunftsorientiert

Biden sei jetzt der vierte amerikanische Präsident, unter dem Truppen in Afghanistan stationiert seien, sagte Biden am Mittwochnachmittag (Ortszeit) während einer Fernsehansprache im Treaty Room des Weißen Hauses. "Zwei Republikaner, zwei Demokraten. Ich werde die Verantwortung dafür nicht an einen fünften weitergeben."

Zehn Jahre seien vergangen, seit Osama Bin Laden, der Anführer Al-Qaidas, aufgespürt und von Navy Seals getötet worden sei. In diesen zehn Jahren seien die Gründe, warum man in Afghanistan bleiben müsse, immer unklarer geworden. Stets habe jemand eingewandt, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für einen Rückzug sei, sagte Biden und stellte voller Zweifel die Frage, ob der richtige Zeitpunkt nach dieser Logik je kommen werde. Wegen einer schrecklichen Attacke vor zwanzig Jahren seien die USA am Hindukusch einmarschiert. "Das kann nicht erklären, warum wir 2021 noch immer dort sein sollten. Wir müssen die Kämpfe der nächsten zwanzig Jahre, nicht die der letzten zwanzig Jahre kämpfen."

Immer neue Verschiebung

Simpel formuliert, hat der Präsident den Glauben verloren, mit der Militärpräsenz noch etwas bewirken zu können. Er will nicht mehr abwarten, ob sich die Regierung in Kabul und die Taliban doch noch auf eine Waffenruhe und Modalitäten der Machtteilung verständigen können. Gespräche zwischen beiden Seiten, im September in Katar begonnen, haben bislang nichts Zählbares erbracht. Ob sie je zu belastbaren Kompromissen führen, darauf möchte im Weißen Haus niemand wetten. Angesichts der vielen Unbekannten hat Biden die Reißleine gezogen.

Würde man den Rückzug von einer inner-afghanischen Einigung abhängig machen, glaubt er, würde man ihn immer wieder aufs Neue verschieben. Einer seiner Berater hat das noch vor der Rede am Mittwoch schnörkellos auf den Punkt gebracht: Ein an Bedingungen geknüpfter Abzug wäre "ein Rezept, um für immer in Afghanistan zu bleiben". Ließe man sich auf Bedingungen ein, liefe es nur darauf hinaus, die Entscheidung bis in alle Ewigkeit zu vertagen.

Auch auf Twitter wird der Truppenabzug massiv diskutiert. Ein Intercept-Journalist findet, es gibt keinen Weg aus Afghanistan, der nicht der Taliban in die Hände spielt.

Der Skeptiker

Das klingt kaum anders, als es unter Donald Trump geklungen hatte. Der sprach im Wahlkampf von Amerikas "endlosen Kriegen", unter die es einen Schlussstrich zu ziehen gelte. Gemäß dem Deal, den Trumps Emissäre mit den Taliban aushandelten, sollten sämtliche GIs das Land bis zum 1. Mai verlassen. Unter Biden hatte es zunächst den Anschein, als wollte man alles noch einmal gründlich überdenken. Generäle meldeten Widerspruch an. In Kabul das Feld zu räumen, warnten sie, würde die Terrorgefahr, die zu bannen man einst interveniert habe, erneut heraufbeschwören. Ein überhasteter Rückzug würde den Taliban den Weg zurück an die Macht ebnen, angesichts der Vorgeschichte eine bittere Ironie. Die Strategiedebatte haben die Generäle verloren, was – wiederum angesichts der Vorgeschichte – keine allzu große Überraschung ist.

Biden war nie ein Fan des Einsatzes am Hindukusch. Aber auch er hat bei internen Diskussionen den Kürzeren gezogen, im Jahr 2009, als Stellvertreter Barack Obamas. Damals ging es um die Frage, wie viele Soldaten man zusätzlich brauche, um die erstarkenden Taliban in die Schranken zu weisen. Stanley McChrystal, seinerzeit Kommandeur des Afghanistan-Kontingents, forderte mindestens 40.000.

Der Skeptiker Biden plädierte für gezielte Schläge, für Drohnenangriffe und Kommando-Operationen, für einen kleineren Fußabdruck an Stelle flächendeckender Präsenz. Am Ende stockte Obama, wenn auch halbherzig, die Truppe um 30.000 Mann auf, auf rund 100.000. Sein Vize hatte sich nicht durchsetzen können, doch was folgte, bestätigte ihn nur in seiner Skepsis. Auf lange Sicht änderte die kurzzeitige Offensive nämlich nichts am Comeback der Taliban. Wie, fragen Bidens Berater, soll ein bescheidenes Restkontingent, aktuell bestehend aus 2.500 US-Militärs, erreichen, woran eine viel größere Streitmacht gescheitert ist?

Bidens Wette

Mitch McConnell gehört zu denen, die von einem schweren Fehler sprechen. Sich zurückzuziehen im Angesicht eines Feindes, den man noch nicht besiegt habe, warnt der republikanische Senator, bedeute eine Absage an Amerikas Führungsrolle. Die Taliban besiegen zu wollen, entgegnet das Weiße Haus, sei kein realistisches Ziel. Realistisch sei, sie künftig an Zusagen zu erinnern, nach denen sie weder Al-Qaida noch anderen Terrorgruppen ein Gastrecht einräumen dürfen. Und notfalls einzugreifen, falls die Miliz ihr Versprechen nicht hält. Wie Letzteres konkret aussehen soll, bleibt unklar. Es ist die große Wette, auf die sich Joe Biden einlässt. (Frank Herrmann aus Washington, 14.4.2021)