Es sei an der Zeit, Privilegien für Autofahrer zu überdenken, sagt Mobilitätsforscherin Lisa Ruhrort. Der Pop-up-Radweg auf der Praterstraße (Bild) wurde vor fast einem Jahr eröffnet, wird aber heuer kein Comeback feiern.

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Was man vermutet und einem der Hausverstand sagt, ist längst auch durch Studien belegt: Das Mobilitätsverhalten in Städten hat sich in der Corona-Krise verändert. Deutsche Wissenschafter haben etwa das Thema der Pop-up-Radwege näher beleuchtet. Die Forscher des Berliner Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change (MCC) kommen zu dem Ergebnis, dass diese temporären Fahrradstreifen, die im Frühjahr 2020 in diversen europäischen Metropolen aufpoppten, dafür gesorgt haben, dass der Anteil der Radfahrerinnen und Radfahrer gestiegen ist. Zwischen elf und 48 Prozent Zuwachs wurden in 106 europäischen Städten verzeichnet.

Pop-up-Radwege keine Dauerlösung

Auch Wien hat im vergangenen Jahr Pop-up-Radwege eingeführt, etwa in der Praterstraße und der Lassallestraße. Während sich Städte wie Berlin entschieden haben, daraus zumindest zum Teil dauerhafte Lösungen zu machen, ist das in Wien nicht geplant. Man wolle den Radverkehr ausbauen, heißt es, aber Pop-up-Radwege umzuwandeln sei nicht das Mittel zum Zweck.

In Wien belegt die Modal-Split-Erhebung den Wandel der Mobilität im ersten Corona-Jahr. Vor allem die Nutzung der Öffis hat sich stark verändert. Hier wurde ein Rückgang von 38 auf 27 Prozent der Gesamtverkehrsnutzung verzeichnet. Der Anteil der Pkws ist mit 27 Prozent gleich geblieben. Ein Plus gibt es bei den Fußgängern (von 28 auf 37 Prozent) und den Radfahrern (von sieben auf neun Prozent).

Privilegien für Autofahrer

Die deutsche Mobilitätsforscherin Lisa Ruhrort bezeichnet es als eine "Frage des politischen Willens", Städte fahrradfreundlicher zu gestalten. Die Corona-Krise habe die Möglichkeit gebracht, neue Wege in der Infrastruktur auszuprobieren. In Berlin, wo Pop-up-Radwege verstetigt werden, packte man die Gelegenheit beim Schopf. Radwege können nun schneller auf jenem Raum entstehen, wo sie vorgesehen gewesen wären. Ohne Pop-up-Projekte hätte der Prozess, sie umzusetzen, länger gedauert.

Ruhrort ist der Meinung, dass die Verteilung von Privilegien, wie sie in der städtischen Mobilität noch gelebt werden, nicht mehr zeitgemäß ist. "Wir haben uns so sehr an das Auto gewöhnt, dass wir es nicht mehr infrage stellen", sagt sie zum STANDARD. Dabei habe man sich mit dem Auto ein System geschaffen, "wie wir unsere natürlichen Lebensgrundlagen zerstören". Es sei aus ökologischer Sicht nicht mehr tragfähig, es im derzeitigen Ausmaß zu nutzen.

Gemeinwohl mit Motorisierung verbunden

Warum fällt es so schwer, davon abzurücken? Das Wirtschaftssystem sei zumindest in Deutschland darum herumgebaut worden, das Auto wurde als Zielbild gesellschaftlicher Entwicklung institutionalisiert. Die Verkehrspolitik sei danach ausgerichtet, das Gemeinwohl mit Motorisierung verbunden worden. "Man wird so ein System nicht von heute auf morgen los", sagt Ruhrort. Sie nennt das Jahr 2050 als Ziel, um einen weitreichenden Wandel umgesetzt zu haben.

Auch die Wiener Stadtregierung sieht in ihrem Koalitionsprogramm vor, Änderungen in Sachen Mobilitätsverhalten vorzunehmen. Infrastruktur und öffentlicher Raum würden noch zu oft für den motorisierten Individualverkehr gedacht und geplant, heißt es in der Arbeitsübereinkunft zwischen SPÖ und Neos: "Ein Auto nimmt stehend zehn- bis 15-mal so viel Raum ein wie ein einzelner Mensch oder ein Fahrrad. In Bewegung steigert sich das Missverhältnis noch mehr." Fokus von Rot-Pink sei es, Alternativen zum eigenen Pkw attraktiv und leistbar zu machen.

Sharing-Modelle forcieren

Ruhrort schlägt ein "multioptionales Mobilitätssystem" vor. Im Grunde bedeutet das, je nach zurückzulegendem Weg das geeignete Verkehrsmittel zu wählen – oder eine Kombination daraus. Fährt man in der Früh mit der U-Bahn in die Arbeit, weil es regnet, so kann man am Nachmittag auf dem Nachhauseweg auf ein Leihfahrrad zurückgreifen, wenn in der Zwischenzeit die Sonne herausgekommen ist. In Verbindung mit der Nutzung eines Smartphones sollte die Abwicklung von Buchungen für die Sharing-Fahrzeuge keine Hürde mehr darstellen, so Ruhrort. Verkehrssicherheit könnte neben der Klimarettung das Argument sein, um die Trendwende zu schaffen.

Ein wenig mehr Klarheit, wie es mit dem Radfahren in Wien weitergehen wird, ist für Freitag zu erwarten. Verkehrsstadträtin Ulli Sima (SPÖ) gibt dann einen Ausblick auf das Radwegebauprogramm. Nach fast zehn Jahren Zuständigkeit der Grünen sind seit wenigen Monaten die Roten am Zug. Selbst die Ökopartei hat ihr Ziel von zehn Prozent Radverkehrsanteil nicht erreicht. (Rosa Winkler-Hermaden, 15.4.2021)