Muss sich zunehmende Kritik an seinem Krisenmanagement gefallen lassen: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron.

Foto: AFP / Christian Hartmann

Paris – Am Donnerstag hat Frankreich die tragische Marke von 100.000 Covid-Todesopfern erreicht. Mehr Tote haben in Europa bisher nur Großbritannien (127.000) und Italien (115.000) registriert. Und während in London die Pubs wieder aufgehen, bleiben die Aussichten in Paris düster, die Ansteckungszahlen hoch. Der Höhepunkt der dritten Viruswelle ist noch nicht erreicht. Regierungssprecher Gabriel Attal erklärte, dem Land stünden noch "sehr schwierige Stunden" bevor.

Die Franzosen machen die Staatsführung von Emmanuel Macron für die Lage verantwortlich. 61 Prozent bescheinigen dem Präsidenten ein schlechtes Krisenmanagement. Das hat mehrere Gründe, die direkt mit dem Stil und Naturell des Staatschefs zu tun haben.

Präsidiale Selbstüberschätzung

Ein Hauptgrund ist die präsidiale Selbstüberschätzung. Macron weigerte sich im Jänner, auf den Rat seiner Covid-Berater zu hören, die vor der Wucht einer dritten Welle im April gewarnt hatten. Der Präsident hörte nicht darauf und ließ über seine Sprecher sogar verlauten, er habe sich "genug in die Problematik eingelesen, um selber entscheiden zu können". Und da er vor der Präsidentenwahl 2022 alles versucht, um sich nicht noch unbeliebter zu machen, verzichtete er wochenlang auf einen neuen Lockdown. Ein Berater der schottischen Regierung schüttelte über Macrons Strategie den Kopf: "Es ist, als fahre er mit dem Auto an die Wand und bremse dabei so spät wie möglich, um etwas Zeit zu gewinnen."

Wütend macht die Franzosen, wie sich ihr Präsident im Nachhinein herauszureden versucht. Wider besseres Wissen behauptete er, seine Virologen seien zuerst selber von günstigeren Prognosen ausgegangen; deshalb habe er zweifellos "richtig gehandelt". Ein Fehlereingeständnis wie von der deutschen Kanzlerin Angela Merkel kommt für Macron nicht infrage. Lieber erklärte er seinen Landsleuten im März aufs Geratewohl: "Wir müssen noch vier bis sechs Wochen durchhalten." Das sei vor genau sechs Wochen gewesen, erinnerte ihn die Zeitung "Le Parisien" am Donnerstag trocken.

Große Worte, kleine Taten

Dass die dritte Welle Frankreich mit Verspätung, aber umso härter trifft, ist nur das neueste Fiasko in einer Serie präsidialer Fehlentscheidungen. Zu Beginn der Pandemie vor gut einem Jahr hatten Macrons Mitarbeiter verlauten lassen, Schutzmasken "nützen nichts". Wie sich später zeigte, versuchten die Behörden damit bloß den eklatanten, ja reglementwidrigen Mangel an Maskenreserven zu verbergen.

Die erste Welle traf Frankreich dann überaus hart; aber auch wenn Macron tönte, Frankreich sei "im Krieg", versagte er einmal mehr bei der Beschaffung von Tests. Nach der zweiten Welle im Herbst erklärte er vollmundig, er werde die Zahl der Notfallbetten auf 10.000 verdoppeln. Das ist bis heute nicht passiert; die Spitäler müssen weiterhin mit 5.000 Beatmungsstationen – bei fast 6.000 Notfallpatienten – jonglieren.

Angst vor der Volksmeinung

Während sich weltweit die Einsicht durchsetzte, dass nur die Massenimpfung gegen die Pandemie wirksam sein wird, zögerte Macron noch im Jänner. Statt im Fernsehen aufzutreten und einen Impfappell an die Nation zu richten, verschleppte er den Beginn der Impfkampagne aus Angst vor einer skeptischen Bevölkerungsminderheit. Und statt wie die britische Regierung impfpolitisch zu antizipieren, wartete Macron ab. Auch deshalb liegt die Sieben-Tage-Inzidenz heute bei 340 pro 100.000 Einwohner (in Österreich 240).

Macron-Berater verteidigen ihren Präsidenten: Dieser könne nicht haftbar gemacht werden für die strategischen Fehler der EU-Kommission oder die Schwerfälligkeit des Staatsapparats. Der Politologe Sébastien Leblet fragt dagegen: "Wer trägt in einer quasimonarchischen Demokratie, in der alle Macht in der Hand eines Einzigen vereint ist, die Verantwortung, wenn nicht der Präsident?" (Stefan Brändle aus Paris, 15.4.2021)