Der Wiener Künstler Thomas Thyrion lebt mit seiner Familie in der Leopoldstadt. An den Wänden dominiert Leere. Ein Bild aufzuhängen, sagt er, wäre wie ein Festkrallen am Augenblick X. Das will er nicht.

"Der Titel meiner letzten Ausstellung, die ich im Oktober in meiner Galerie hatte, war We are glad you are here. Ich freue mich auch, dass ich heute Besuch habe, denn gerade jetzt, in Zeiten von Corona, ist der eigene Lebensradius kleiner geworden. Manchmal ist er auch ein bisschen zu klein. Die Freude über die Existenz des anderen ist für mich vor allem auf einer Metaebene zu verstehen. In aktueller Zeit gehen wir uns gerne aus dem Weg, und auch außerhalb von Corona wissen wir die Gesellschaft des Gegenübers nicht immer zu schätzen. Das ist zumindest mein Eindruck.

Thomas Thyrion in seiner Wohnung, die an der Grenze zwischen Stadt und Land liegt.
Foto: Lisi Specht

Aber tatsächlich ist Gemeinschaft eines der wertvollsten Güter, die wir haben. Ich bin jedenfalls froh, dass ich diese Wohnung hier habe. Und die Wohnung ist, denke ich, auch glücklich darüber, dass ich hier bin. Ich wohne hier gemeinsam mit meiner Frau Victoria Vinogradova und unserer Tochter Aglaia, die gerade vier Jahre alt ist und die die Wohnung mit ihren Stiften, Farben und Spielzeugen unglaublich bereichert. Sie bringt viel Freude und Genuss an diesen Ort, und sie ist in einer entzückenden Lebensphase, dass man sie den ganzen Tag lang am liebsten nur knuddeln und drücken mag. Es ist ein Vergnügen, ihr in ihrem Tun zuzusehen.

Wir haben die Wohnung vor fünf Jahren gefunden. Zuvor haben Victoria und ich in getrennten Wohnungen gelebt, aber nachdem Aglaia am Weg zu uns war, haben wir uns auf die Suche gemacht. Die Wohnung hat 65 m² und liegt in der Leopoldstadt, in gewisser Weise an der Grenze zwischen Stadt und Land, zwischen Menschen und Natur, zwischen Lebendigkeit und Ruhe. In die Innenstadt sind es keine zehn Minuten zu Fuß, in den Wald brauche ich auch nicht länger. Ist das nicht großartig? Diese hybride Gegensätzlichkeit dieses Bezirks fasziniert mich zutiefst.

"Unsere Besucher wundern sich, warum Victoria und ich hier nicht unsere Kunstwerke aufhängen", sagt Thomas Thyrion.

Fotos: Lisi Specht

Unsere Wohnung ist sehr leer. Also ich empfinde es nicht so, aber ich sage das, weil all die anderen das immer sagen. Unsere Besucher wundern sich, warum Victoria und ich hier nicht unsere Kunstwerke aufhängen, warum hier Leere und Nacktheit dominieren. Aber ich könnte niemals mein eigenes Kunstwerk an die Wand hängen. Ich empfinde meine Bilder als Momente, und wenn der Moment vorbei ist, dann muss das Bild auch vorbei sein, und ich muss ebenfalls weitermachen und weitergehen. Mein eigenes Kunstwerk an die Wand zu hängen – das wäre wie ein Festhalten am Moment, wie ein unendliches Verlängern dessen, was dazu gemacht ist, zu verfliegen und sich wieder in Luft aufzulösen.

Daher also weiße Wände. Weiße Wände sind Räume für Entfaltung, für Möglichkeiten. Je weißer, desto vielfältiger, desto möglicher. Wir haben zwar schon viele Kunstwerke von Freunden geschenkt bekommen, die selbst Künstler sind, aber ich kann die nicht aufhängen. Ich will mich nicht festkrallen am Augenblick X. Und ich will nicht, dass die schönen Kunstwerke unserer Freunde verstauben. Daher sind sie in einer Box aufbewahrt. Wenn ich sie anschauen möchte, nehme ich sie heraus und genieße sie – und danach lege ich sie wieder hinein und mache den Deckel zu.

Die Kunstwerke liegen in einer
Box. Dafür bereichert Tochter Aglaia die Wohnung mit ihren Stiften, Farben und Spielzeugen.
Fotos: Lisi Specht

Ich führe ein ruhiges, genussvolles Leben mit meiner Familie. Ich habe regelmäßige Arbeitszeiten, damit ich mich nicht auspowere mit meiner Kunst, und manchmal fühle ich mich wie ein Bürokrat, der jeden Tag ins Atelier fährt und dort von neun bis 17 Uhr arbeitet. Wo ist die Stechuhr! Aber es hilft mir, mich zu strukturieren. Früher habe ich, um aus dieser Struktur auszubrechen, zum E-Bass gegriffen und Funk und Rock gespielt. Selbstdisziplin ist für mich, auch wenn das paradox klingt, etwas sehr Befreiendes.

Eines Tages will ich mit meiner Familie in einem kleinen Häuschen mit einem kleinen Garten wohnen. Idealerweise genau an der Grenze zwischen Stadt und Land, zwischen Menschen und Natur, zwischen Lebendigkeit und Ruhe.

Ob uns das gelingen wird? Ich weiß es nicht. Es ist ein Traum." (19.4.2021)