Der englische Historiker Tom Holland nimmt sich die ganze Geschichte des Christentums vor.

Foto: Tom Holland

Erst einmal: Respekt. Es gibt nicht viele Historiker, die sich daran wagen, 2500 Jahre Weltgeschichte en bloc nachzuzeichnen. Und nicht gerade eines der homogensten historischen Kapitel.

Im Gegenteil. Was sich der 1968 geborene englische Historiker Tom Holland vornimmt, ist nichts Geringeres als die ganze Geschichte des Christentums. Inklusive philosophischer Vorläufer aus vier Jahrhunderten vor der Geburt eines Zimmermanns, der eine von vielen Sekten am Ostrand des römischen Imperiums schuf. Sein Name: Jesus Christus.

Skandalöser Glaube

Die Herausbildung des Christentums ist, so Holland, vielleicht "die transformativste Entwicklung innerhalb der westlichen Geschichte". Denn: "Der Glaube ist sowohl das nachhaltigste Vermächtnis der klassischen Antike als auch der Anzeiger für deren extreme Umwandlung."

Gleich zu Beginn fragt er jedoch verwundert: "Warum übte ein Kult, der von der Hinrichtung eines obskuren Verbrechers in einem längst untergegangenen Reich inspiriert war, einen derart verwandelnden und anhaltenden Einfluss auf die Welt aus?"

Holland will nachzeichnen, wie der Glaube, dass der Sohn des einen Gottes der Juden an einem Kreuz zu Tode gefoltert wurde, so nachhaltig und so weit verbreitet werden konnte, dass heute die meisten Menschen im Westen die Wahrnehmung dafür verloren haben, wie skandalös dieser Glaube zu Anbeginn war.

Neue Zeitordnung

Er schildert, wie "religio" entstand, wie das Christentum "von oben" durchgesetzt wurde, von Kaiser Konstantin, der lange im Glauben diffus blieb und erschüttert war über abseitig lächerlichen Binnenglaubensstreit. Er setzt mit dem ersten großen Kommunikator ein, mit Saulus, der zu Paulus wurde.

Was Paulus predigte, war revolutionär. Es verkehrte die Gesellschaftsordnung. Eine neue Zeitordnung, so Tom Holland arg pathetisch, sei mit ihm und durch ihn entstanden. Paulus’ Botschaft war einfach: "Er war nichts, weniger als nichts, ein Mann, der die Anhänger Christi verfolgt hatte, verblendet und verachtet; und trotzdem war ihm vergeben, war er gerettet worden."

Origenes (185–253/254), der brillante Gelehrte, prägte als Erster den Begriff "Christianismos", Christentum. Holland: "Das, was die Christen als ‚Christianismos‘ bezeichneten, war so neuartig, dass es unweigerlich die Art einfärben musste, wie sie den Rest der Welt wahrnahmen." Und es war Origenes, der eine "theologia" entwickelte, eine Wissenschaft von Gott.

Dabei war diese synkretistisch, Origenes führte vieles zusammen, um die Paradoxien der christlichen Lehre aufzudröseln. Zugleich schärfte er sie und befreite sie vom Ruch, das Christentum sei nur etwas für die Ungebildeten und die Tumben.

Das Katholische, von "katholikós", universal, sollte nicht nur geografisch, sondern auch sozio-religiös allumfassend sein: Menschen aller Klassen, Schichten, Bildungsstufen sollten, so der Theo-Philosoph, fürs Christentum reklamiert werden können. Was paradox war, war Philosophie doch ein Privileg der Reichen und elitär. Ein elitärer, Anspruch einfordernder, beeindruckend belesener Mann wie Origenes also, Superstar seiner Zeit, wollte den Anhauch von Elite abräumen.

All you need is love

Das Konzil von Nicaea 325 führte zur Verschmelzung christlicher Theologie mit römischer Bürokratie. Das Nizänische Glaubensbekenntnis war das erste Dokument, das Orthodoxes von Häretischem präzis schied. Umgekehrt war für Kaiser Konstantin die Vereinigung der Gläubigen in einer Religion praktisch, weil Macht sichernd und die Ethnien seines Imperiums zusammenbindend. Dissens wurde weiterhin furios, brutal und sektiererisch ausgefochten.

Davon wie von den Wellenbewegungen zwischen Orthodoxie, Häresie, Macht, Armut, Vision, Purifikation, Verfolgung, Gegenschlag, Aufklärung, Atheismus und Moderne erzählt Holland plastisch, wobei man sich fortschreitend eine stärkere Auseinandersetzung mit Religions- und Hegemoniekritik wünschte.

Der Bogen mit feinen Vignetten von Katharina von Siena oder Franz von Assisi endet mit den Beatles, deren christlicher Botschaft "All you need is love" und mit "woke"-Tugendwächtern, die an rigide altpuritanisch-frühchristliche Bischöfe gemahnen.

Holland weiß plastisch zu erzählen. Er schrieb ja historische Romane, bevor er 2003 Rubikon. Triumph und Tragödie der Römischen Republik veröffentlichte, das, wie auch Persisches Feuer, aber aufschlussreicher ist, pittoresker und nicht gar so feinsinnig überladen wie Herrschaft.(Alexander Kluy, 17.4.2021)