Dass in der Silvesternacht der eifersüchtige Huber dem pockennarbigen Zadrazil wegen der blonden Rosi ein Messer in die Rippen gestochen hat, interessiert vielleicht die Lokalpresse, nicht aber den Gesetzgeber, denn der muss sich vom Einzelfall lösen und Regeln aufstellen, die immer und für alle gelten (Abstraktion): Wer einen anderen am Körper verletzt oder an der Gesundheit schädigt, ist […] zu bestrafen.1

So notwendig hier die Bildung von Oberbegriffen ist, so blass und gesichtslos ist die daraus erfließende Sprache, denn ständig ist von etwas die Rede, das man weder sehen noch ertasten kann (Anspruch, Kompetenz, Nichtigkeit). Das verträgt sich nur schwer mit der deutschen Sprache, denn "[k]eine andere Sprache ist so konkret, so räumlich; das Deutsche ist, genaugenommen, unfähig zu jeder Abstraktion".2

Schöne, deutsche Juristensprache.
Foto: APA/HELMUT FOHRINGER

Kraft der Bildhaftigkeit

Dieser Kampf zwischen der uralten Kraft und Bildhaftigkeit der deutschen Sprache einerseits und der modernen Gedankenleistung der Abstraktion andererseits führt gerade in der Jurisprudenz zu vielen versteckten, schönen Metaphern, die dem Juristen oder der Juristin ob deren Routine meist verborgen bleiben:3

Allgegenwärtig ist zunächst die Natur (Rechtsnatur), denn überall sprudelt es (Rechtsquelle, Abflussprinzip), blüht etwas auf, schwillt an, rankt sich empor oder fällt herunter, etwa Anteile, die an- oder zuwachsen; Urteile, die nach Eintritt der Spruchreife gefällt werden und später in Rechtskraft erwachsen; Ansprüche, die Früchte tragen; Fristen, die fruchtlos verstreichen. Auch der menschliche Körper taucht auf (Augenschein; Faustpfand; Anspannung; Spruchkörper; Gesamthandvermögen; Vormund; ein Rechtsmittel wird ergriffen) und ebenso die Gesundheit (Vertragsbruch, Verletzung des Rechts; Rechtspflege; Heilung der Nichtigkeit). Rechte werden innerhalb gesetzlicher Grenzen eingeräumt, die man zu umgehen versucht. Für Streitigkeiten darüber, zum Beispiel über den laufenden Unterhalt oder die hinkende Gesamtschuld, ist der Rechtsweg zu beschreiten (Verfahrensschritt, Rechtsgang); oben ist der Oberste Gerichtshof, unter ihm die Untergerichte. Urteile ergehen, sofern es nicht zum Ruhen des Verfahrens oder gar zum Stillstand der Rechtspflege kommt. (Michael Rami, 21.4.2021)