Prolog: Die Absurdität von Grenzen

Staatsgrenzen, wie wir sie heute verstehen, verteidigen oder verabscheuen, sind recht neue Erfindungen. Europas nationale Grenzen stammen im Schnitt aus dem Jahr 1777. Die älteste ist die zwischen dem Pyrenäenfürstentum Andorra und seinen beiden Nachbarn Frankreich und Spanien. Dieses Relikt des feudalen Europa gibt es seit 1278, festgelegt von einem Bischof und einem Grafen.

Ganz schön beachtlich, diese Kontinuität! Viele Grenzen sind deutlich jünger – auch weltweit. Das durchschnittliche Entstehungsjahr des europäischen Exportschlagers "Grenze" liegt auf den anderen Kontinenten zwischen 1861 und 1934. Mehr als die Hälfte aller aktuellen Grenzkilometer entstand im 20. Jahrhundert.

Die halbe Wahrheit

Lassen Sie sich also nicht in die Irre führen, wenn wieder einmal jemand aus patriotischen oder nationalistischen Gründen darauf besteht, dass eine bestimmte Grenze genau so bleiben und verteidigt werden müsse, weil sie schon immer da gewesen sei. Auch solche, die behaupten, Grenzen hätten Menschen seit jeher entzweit, erzählen – wenn überhaupt – nur die halbe Wahrheit.

Fabian Sommavilla, "55 kuriose Grenzen und 5 bescheuerte Nachbarn". € 22,70 / 248 Seiten. Katapult-Verlag, Greifswald 2021
Foto: Katapult / Tim Ehlers

Grenzen haben sich stets verschoben und gewandelt, sind aufgetaucht und wieder verschwunden. Vor allem aber waren die Trennlinien auf den Karten immer nur vage Momentaufnahmen. Sie waren das, was Herrschende zu beherrschen glaubten oder kontrollieren wollten. Zu jeder Karte existierte meist eine andere, die zumindest Teile des Gebiets jemand anderem zuschrieb. Heute teilen sich etwa 200 Länder rund 250.000 Kilometer gemeinsame Grenze. 250.000 Kilometer voller Konfliktpotenzial, könnte man meinen – entstanden aus dem Abgrenzungsfetischismus des Menschen, der sich erst dann sicher fühlt, wenn die Staatsgrenze, die Stadtmauer und die Gartenhecke möglichst hoch und undurchdringbar in den Himmel ragen.

Während früher die Macht der Herrschenden zu den Grenzen hin immer stärker ausfranste, versuchen Diktatoren und Populisten immer öfter, ausgerechnet dort ihre Stärke zu beweisen – oder ihre Schwäche zu kaschieren: So hätte sich an der innerkoreanischen Grenze in den 1970ern beinahe ein internationaler Krieg wegen einer gestutzten Pappel entzündet. Nicaraguas Militär marschierte 2010 in Costa Rica ein, weil ein Fluss seinen Lauf und damit die Grenze verändert hatte. Die Ausrede des zuständigen Generals: Google Maps habe den Grenzverlauf anders angezeigt. Und genervt von den permanenten Grenzschließungen Gambias überlegte dessen großer Nachbar Senegal 2005, das kleine Land einfach zu untertunneln.

Die Tiroler Rapperin Nenda hat passend zu einem Kapitel des Buchs einen Song über Grenzen und die Abschiebung von Tina geschrieben.
NENDA

Zahlreiche Autokraten würden Grenzen für bessere Umfragewerte am liebsten zementieren und zu nationalen Heiligtümern erheben. Noch immer sind viele bereit, für Nationalgrenzen in den Krieg zu ziehen. An Grenzen geschieht aber nicht nur Schlechtes.

Grenzdialekte und "Wallyball"

Es gibt sie, die schönen, die hoffnungsvollen Signale. Entlang der Linien, die trennen sollen, schließen sich Menschen oft trotz und manchmal gerade erst wegen der Zäune und Mauern zusammen. An der brasilianisch-uruguayischen Grenze etwa wachsen nicht nur ganze Städte zusammen, es hat sich sogar eine eigene Sprache entwickelt, die alle Menschen im Grenzgebiet beherrschen. Auch am US-amerikanisch-mexikanischen Todesstreifen verbrüderten sich die Menschen, veranstalteten jahrelang länderübergreifende Grenzfeste und nutzten die Mauer als Volleyballnetz.

Viele der vermeintlichen "Feel-good-Stories" halten einer genaueren Untersuchung aber meist leider nicht stand. Wenn ein US-Bürger etwa heute noch in Afrika herumrennt und ein vermeintlich herrenloses Gebiet zwischen dem Sudan und Ägypten für sich beansprucht, damit die Tochter Prinzessin werden kann, ist er eben weniger Märchenkönig als ein aus der Zeit gefallener Kolonialist. Hinter den besonders zackigen, geraden, unsinnigen und schlichtweg missratenen Grenzziehungen dieser Welt stecken tatsächlich oft unglaubliche Geschichten darüber, wie sie entstanden und wie sie Menschen noch heute beeinflussen.

Das Wendecover: Ein halbes Jahr französisch, dann wieder sechs Monate spanisch: Die Kontrolle über die Fasaneninsel wechselt seit mehr als 350 Jahren laufend hin und her. Royale Hochzeiten fanden auf ihr ebenso statt wie Gefangenenaustausche.
Foto: Katapult / Tim Ehlers

In diesem Buch werden ausschließlich aktuell noch existierende Grenzen behandelt. Wäre es nicht schön, wenn es in ein paar Jahrzehnten nicht mehr als ein antiquiertes Werk wäre – ein Zeugnis aus einer Zeit, zu der man sich noch zu viele Gedanken über Grenzen machte und noch immer viel zu viele Menschen an Grenzen starben? Klar ist: Nur weil es skurrile und interessante Geschichten über sie gibt, muss man Grenzen nicht befürworten. Ganz im Gegenteil: Je mehr man sich mit ihnen beschäftigt, desto deutlicher zeigen sich ihre Absurdität und die Willkür, mit der sie gezogen wurden.

---------------------------------------------------

Zum Zähneputzen nach Frankreich

Dass sich mit internationalen Grenzen gutes Geld verdienen lässt, ist kein Geheimnis. Seit Jahrhunderten profitieren Menschen von Zolleinnahmen, dem Ausnutzen unterschiedlicher Steuersätze oder dem Verkauf des neuesten Sicherheitszubehörs, das beispielsweise Schmuggler ausfindig machen soll. Diese aber sind oftmals die wahren Profiteure von Grenzen. Ein Teilzeitschmuggler war es auch, der den Wert der schweizerisch-französischen Grenze westlich des Genfer Sees erkannte.

Die kürzesten internationalen Landesgrenzen.
Foto: Katapult / Tim Ehlers

Nach zwei Annexionsversuchen durch zwei verschiedene Napoleons erfolgte in der Region 1863 ein großer Gebietstausch. Der 25-jährige Franzose Ponthus nutzte die drei Monate zwischen der Einigung der beiden Länder und dem Inkrafttreten des Vertrags für seinen Coup: Er errichtete auf seinem bislang unbebauten Grundstück in dem Städtchen La Cure ein dreistöckiges Gebäude – exakt auf der zukünftigen Trennlinie der Staaten. Er hätte gern noch höher gebaut, doch er ließ schon sämtliche verfügbaren Bauarbeiter auf seinem Stück Land zwischen der Rue de la Frontière und der Route de France arbeiten. Diese konnten gerade noch rechtzeitig das Dach schließen, bevor der Grenzvertrag gültig wurde. Das war nötig, damit das Haus als unantastbarer Altbestand galt, der durch die neue Grenze nicht verändert werden durfte. So entstand ein Haus, das in zwei Ländern zugleich steht.

Die Zimmer 6, 9 und 12 des Hotels Arbez liegen in zwei Staaten gleichzeitig.
Foto: Katapult / Tim Ehlers

Ponthus eröffnete zunächst einen Lebensmittelladen im Schweizer Drittel seines Gebäudes und ein Restaurant auf der anderen Seite. Der Geschäftsmann wusste die jeweiligen Steuervorteile geschickt auszunutzen und soll dem Vernehmen nach nicht alles richtig verzollt haben. Kurz: Er schmuggelte, was das Zeug hielt! Erst 1921 verkauften Ponthus’ Nachkommen die mittlerweile in ein Hotel umgewandelte Liegenschaft an Jules-Jean Arbez. Seitdem heißt das geteilte Gasthaus "Hôtel Arbez Franco-Suisse".

Die Grenze trennt nicht nur dessen Speisesaal, den Flur sowie die Küche, sondern auch drei Zimmer und die Treppen, die zu den oberen Stockwerken führen. Weil die Treppen in Frankreich beginnen und in der Schweiz enden, konnten die Nazis während der Besetzung Frankreichs im Zweiten Weltkrieg nicht die oberen Etagen betreten. Denn das hätte einen Einmarsch in die neutrale Schweiz bedeutet. Die Familie Arbez nutzte diesen Umstand, um Hunderte Juden, Jüdinnen und Leute aus dem Widerstandskampf auf die eine oder andere Seite der Grenze zu schleusen oder in ihrem Hotel zu verstecken.

Der Grenztausch, der das kuriose Grenzhotel erst ermöglichte.
Foto: Katapult / Tim Ehlers

Wer die volle Grenzerfahrung machen möchte, sollte seinen Besuch in La Cure über den rund 30 Minuten entfernten Genfer Flughafen einleiten. Da auch dieser unmittelbar an der französisch-schweizerischen Grenze liegt und über zwei Ausgänge in zwei Länder verfügt, kann das fröhliche Grenzhopping bereits dort beginnen, ehe man in die Zimmer 6, 9 oder 12 des Arbez eincheckt. Während in Letzterem der genaue Verlauf der Grenzlinie unumstritten ist und ein Toilettenbesuch zwangsläufig einen Grenzübertritt nach Frankreich bedeutet, ist die Sache bei den Zimmern 6 und 9 unklar.

So wird in zahlreichen Reiseblogs zwar gerne behauptet, dass sich der Kopf beim Schlafen in Frankreich befinde, während die Beine in der Schweiz lägen. Tatsächlich dürfte die Grenze aber knapp an der Wand entlang verlaufen, womit sich maximal der Haarscheitel in der Grande Nation befinden dürfte. Einen Pass braucht man im Hotel jedenfalls nicht. Als während der Coronakrise die Schlagbäume zwischen den Staaten runtergingen, soll sich deshalb der ein oder andere Ortsansässige durch das Hotel zu seinen Liebsten geschlichen haben. Der alte Ponthus wäre sicher stolz, dies zu hören. Vielleicht hätte er auch eine kleine Gebühr erhoben. (Fabian Sommavilla, 19.4.2021)