Von links: Rennradenthusiastin Katharina Pfaff, Elisabeth Wölfel, die Gründerin der "Women’s Race Division" des Vienna International Cycle Club, und die Wiener Bike-Influencerin Nora Turner: "Wir sind keine Einzelkämpferinnen mehr."

Foto: Heribert Corn

Als Julia Fuchs oben ankam, war sie fassungslos. Das, meint die Künstlerin, sei "noch dezent formuliert". Klar: Sie schnaufte. War verschwitzt. War oft überholt worden. Aber: "Ich hätte nie geglaubt, dass ich das kann." Doch der Freund, der die Wienerin beim Kauf so etwas wie "beraten" hatte ("Er hatte gesagt: Bestell meines in der Damenversion."), hat Fuchs gleich zur ersten Ausfahrt auf den Exelberg geschickt. Und auch wenn der 516 Meter hohe Wienerwaldhügel nicht der Col du Tourmalet (ein Gipfel der Tour de France) ist, ist er ein "Klassiker": Mit dem Rad ist Rauffahren nicht ohne. Julia Fuchs wäre nie auf die Idee gekommen, das "mit meinem schönen, schwerfälligen Stadtrad" zu probieren. Nun saß sie, es war letzten Oktober, zum ersten Mal auf einem Rennrad. Und auch wenn Beobachter ihrer Ausfahrt das Vokabel "fliegen" wohl für überzogen gehalten hätten, kam es Fuchs so vor: "Ich war überwältigt: Ich hätte mir das nie zugetraut."

Seither "fliegt" die 42-Jährige zwei- oder dreimal pro Woche durch den Wienerwald. Und hat nur ein Problem: "Länger als eine oder eineinhalb Stunden halte ich den Sattel nicht aus. Dann tut mir alles weh." Der Freund, der sie aufs Rennrad brachte, behaupte, das sei normal. Vergehe. Da müsse frau durch. Mann auch.

Vor zehn, 15 Jahren mußte man Frauen auf Rennrädern noch mit der Lupe suchen. Und auch wenn die Zahl der Rennradlerinnen seither stieg, wenn sich die "Exotinnen" zur "Minderheit" mauserten, sind Frauen auf dem Renner jetzt gerade ein Boom im Boom im Boom: Corona-bedingt wird Radfahren groß und größer.

Nix mehr mit rosa Radln

Rennradfahren "rockt" besonders – und in diesem Segment steigt der Anteil der Frauen überproportional. Exakte Zahlen für Österreich gibt es keine, aber Beobachtungen wie die der Wiener Bike-Influencerin Nora Turner (aka "Unicorncycling"), die auf manchen Strecken derzeit "manchmal über ein Viertel Frauen" sieht, sind nicht aus der Luft gegriffen.

Sie sind Teile eines Mosaiks. Das Gesamtbild: Rennradfahren ist noch immer männlich. Doch Dominanz und Vormachtstellung bröseln. Denn längst sind da nicht mehr bloß ein paar Handvoll im Windschatten ihrer Männer mitrollender "Weibchen" unterwegs: Frauenrennradgruppen und -workshops haben enormen Zulauf. Ebenso weibliche Radrennteams. Bikes für Frauen sind längst nicht mehr bloß kleine Größen der Herrenräder in Rosa. Internationale Bikewear-Marken schneidern gezielt für Frauen – und nicht bloß zwei oder drei Alibiteile. Ein Grazer Start-up mit Radhosen für Frauen wechselt vom Crowdfundingmodus gerade in die Produktionsphase. Und zum ersten Mal gibt es in Österreich eine Radrennbundesliga für Frauen: Die Preisgelder sind für Männer und Frauen gleich.

Rennradnetzwerk der "Mitzis"

Und auch wenn Sensationsmeldungen wie die der Fitnessplattform Strava, dass sich die Zahl der von Frauen hochgeladenen Fahrten im Vorjahr mehr als verdoppelt habe, nur für Großbritannien vorliegen und nichts über den Frauenanteil oder die Gesamtzahl aller "Rides" aussagen, ist klar: Da verschiebt sich etwas. Überall: Fanden 2016, als die Grazer Profi-Triathletin Barbara Tesar ihr Rennrad-Trainingscamplabel Istriabike gründete, gerade ein paar Handvoll Frauen den Weg nach Kroatien, kletterte der Anteil seither kontinuierlich – und liegt derzeit bei 20 Prozent. Und als Elisabeth Wölfel innerhalb des Wiener VICC, des Vienna International Cycle Club, im Februar eine "Women’s Race Division" gründete, meldeten sich binnen eineinhalb Monaten über 300 Frauen. Nicht alle, um Rennen zu fahren oder der VICC-Community (derzeit online rund 4000 Köpfe groß) beizutreten – aber um ein Zeichen zu setzen: um als Sportlerinnen sichtbar zu sein.

Diese Sichtbarkeit, sagt Katja Schell, sei es, was weibliches Rennradfahren derzeit multipliziere. Schell, im Hauptberuf APA-Journalistin und Teil der Chefredaktion, fährt seit 2008 Rennrad ("damals sehr allein"). Ihre Historie ist der von Julia Fuchs nicht unähnlich: Auch Schell schwärmt bis heute von der "durch eigene Kraft schlagartig erweiterten" Freiheit und Reichweite. Doch ungleich Fuchs ist Schell keine "Einzelkämpferin", sondern Mitglied des 2014 gegründeten Frauenrennradnetzwerk Mitzi and Friends: Zu den über 1500 "Mitzis", die dem Klub auf Facebook angehören, zählen auch einige Männer – die "Friends". Dennoch ist klar, dass es hier um gemeinsames weibliches Radfahren auf längst nicht mehr "männlichen" Rädern geht. Und auch wenn Schell anfangs anmerkt, dass sie "das feministische Potenzial des Rennradfahrens für enden wollend" halte, nimmt sie das dann wieder zurück: "Sichtbarwerden in einer Männerdomäne ist feministisch."

Aber da ist noch etwas: Frauen fahren zwar nicht anders Rad als Männer, kommen aber oft anders zum Radsport – und werden oft immer noch konsequent auf eine "Begleiterscheinungsrolle" reduziert. Der "Klassiker" ist immer noch der (männliche) Partner, über den frau zum Radsport kommt. In der Regel borgte man dann – zum Schnuppern – zunächst einmal ein (kleineres) Rad aus. Meist – mangels weiblicher Rennradlerinnen im Freundeskreis – bei einem Mann. Hier lauert das erste Problem: die unterschiedliche Sitzanatomie. Auf nicht passenden Sätteln ist Rennradfahren auch für Männer ein Höllenritt durch nie gekannte Schmerzwelten. Für Frauen ist ein ob seiner Schmalheit oft "Feile" genannter Männersattel pure Folter: Auf unterschiedliche weibliche Beckenbreiten und Sitzbeinhöckerabstände abgestimmte Sättel gibt es zwar längst – aber wenn nicht beim ersten Mitfahren daran gedacht wird, gibt es oft kein zweites Mal.

Spezielle Frauenrennräder

Sobald aber mehr Frauen fahren, denkt auch die Industrie um. Nicht nur, was Sättel angeht: Giant – nach eigenen Angaben sind die Taiwanesen der größte Radhersteller der Welt – hat 2008 mit Liv eine rein auf Frauen abzielende Radmarke gegründet. Grosso modo zeichnen Frauenräder "kürzere Oberrohre, bei relativ höheren Sattelrohren und kürzeren Kurbeln aus, weil das der weiblichen Geometrie besser entspricht", erklärt Österreichs Liv-Generalhändler Roland Wagner vom Klosterneuburger Speedplanet. Dass in seinem Laden zwei Elitetriathletinnen und Sportwissenschafterinnen beraten, sei "für viele Frauen sicher auch nicht unangenehm".

Frauen im Radsport werden oft immer noch auf eine "Begleiterscheinungsrolle" reduziert.
Foto: Heribert Corn

Wagner untertreibt: Geschichten, wie in namhaften Shops Verkäufer Frauen in Männerbegleitung im Beratungsgespräch ignorieren und mit dem Mann besprechen, was gut für "die Dame" sei, sind immer noch Radkaufalltag, erzählen etliche der Mitzis. Skurril wird es, wenn Männer "lieber einen Herzinfarkt riskieren, als sich von einer Frau überholen zu lassen. Oder wenn sie sich mit weiblichen Guides unbedingt duellieren müssen" (Ex-Profi und Radreiseveranstalterin Barbara Tesar). Oder wenn sie "mansplainen": Als VICC-Race-Divison-Gründerin Elisabeth Wölfel unlängst mit einer anderen Elitefahrerin auf der Donauinsel Sprints trainierte, wurden sie von einem Silberrücken über – angeblich – nicht korrekte Fahrtechnik und Manöver belehrt. Der "Schneeballeffekt", den mehr rennradelnde Frauen bei bisher zögerlichen Frauen gerade auslösen, dürfte diese Sorte Mann in Zukunft tatsächlich in eine Art Hamsterrad-Dauersprintstress versetzen.

Start-up für Rennradlerinnen

Das Nicht-ernst-genommen-Werden beschränkt sich aber nicht auf der Straße: Als die Bike-Influencerin Nora Turner unlängst in einem Onlinevideo ihre Suche nach Frauen in einem 130 Seiten starken Radmagazin dokumentierte, fand sie exakt drei Frauen auf dem Rad: zwei davon in Inseraten. Das passe, so Turner, zum fachjournalistischen "Respekt" vor weiblichem Radspitzensport: So Frauenrennen überhaupt in TV-Berichten vorkommen, sei es "gang und gäbe, dass die Kommentatoren dabei weiter über Männerrennen reden". Und im Amateurbereich komme es auch in Österreich immer wieder vor, dass manche Altersklassen für Frauen gar nicht "angeboten" würden, klagen VICC, Mitzis und Turner unisono: Bei Männern wäre das undenkbar.

Abgesehen von der Ungerechtigkeit ist es aber das Gegenteil von schlau, auf den exponentiell wachsenden Teil eines material- und textilintensiven Marktes zu verzichten. Nicht weil Frauen auf dem Rad lieber rosa als dunkelblau tragen, sondern weil sie andere Schnitte brauchen. Wer da jetzt mitdenkt, dürfte morgen gut dastehen: Das junge Grazer Start-up Kama etwa kommt gerade mit einer ersten – ausschließlich für Frauen konzipierten – Radhose auf den Markt. Katharina Stelzer und Donata Schörkmaier entwarfen, "was uns beim Radfahren fehlt": nicht nur eine dezente Tasche, sondern auch anders geschneiderte Beinabschlüsse, "weil Frauen durch das Radtraining oft mehr und anders Oberschenkelmuskulatur aufbauen als Männer" (Stelzer) – und eine eigene, "frauenspezifische" Sitzpolsterung, speziell für lange Touren. Derlei, erklärt die Grazer Ärztin und Triathletin Jutta Reichel, eine der Testerinnen der Kama-Prototypen, sei wesentlich: "Eine nicht passende Hose hat bei mir schon einmal zu Problemen geführt, die ohne ärztlichen Eingriff nicht in den Griff zu bekommen waren."

Während die Grazerinnen gerade ihre ersten Hosen in Italien fertigen lassen, kann das aus New England stammende High-End-Label Velocio schon auf ein paar Jahre Praxis verweisen. Auch bei Velocio spielten Radhosen für Frauen eine entscheidende Rolle bei der Gründung. Zum einen wegen der Passform. Zum anderen weil gerade beim Radfahren einer der großen Unterschiede zwischen Mann und Frau schlagend wird: Radhosen haben meist Hosenträger. Bei einer Pinkelpause müssen Frauen also Helm und Trikot ausziehen. Im Rennen kostet das wertvolle Minuten. Im Alltag hockt frau halbnackt-exponiert am Straßenrand.

Velocio – von einer Profifahrerin mitgegründet – löste das Problem auf eigene Art: mit speziellen Hosenträgern und einem "Fly Free" genannten System. Doch darum, betont die von Dänemark aus die Velocio-Europa-Agenden steuernde Tirolerin Ricky Buckenlei, gehe es nur am Rande: In der ersten Kollektion (2014) habe sich das Label mit 20 Frauen- und zwei Männerteilen bewusst als "weiblich" platziert. Heute legt man Wert auf eine 50:50-Quote in der Kollektion: "Viele große Marken haben immer noch männerdominierte Kollektionen. Sie präsentieren sich männlich – wie eh und je. Dann dürfen sie sich auch nicht wundern, wenn Frauen, die das Rennradfahren gerade entdecken, dort weder hinschauen noch hingreifen." (Tom Rottenberg, 16.4.2021)