Bernd Stegemann kritisiert die neue Empfindlichkeit: "Moralismus ersetzt zusehends die Ethik. Alles soll so rein sein wie die schöne Seele, für die man sich selbst hält."

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Mit den Tücken der Identitätspolitik setzt sich Bernd Stegemann nicht erst seit gestern auseinander. In seinem neuen Buch warnt der streitbare Linke beredt vor der mutwilligen Zerstörung der Öffentlichkeit und ihrer Diskussionskultur. Dabei hätten wir eigentlich Besseres zu tun: zum Beispiel unseren Planeten retten!

STANDARD: Sie schildern in "Die Öffentlichkeit und ihre Feinde" ein Kippphänomen. Aus dem Bewusstsein der Ohnmacht heraus begehren Minderheiten für sich Vorrechte. Wird dadurch das Konzept von Öffentlichkeit ausgehöhlt?

Stegemann: Will man einen sinnvollen Dialog führen, braucht es Regeln. Dazu gehört, dass man dem anderen keine grundsätzlich bösen Absichten unterstellt. Diese Grundregeln werden immer öfter in Mitleidenschaft gezogen: durch den öffentlich-privaten Zwitterraum, in dem wir uns permanent aufhalten. Viele Menschen benützen Facebook oder Twitter. Die Öffentlichkeit auf dem eigenen Sofa führt aber zu dem beängstigenden Phänomen, dass alle Anliegen mit großer Unerbittlichkeit vorgetragen werden, in einer Art Stammtischduktus. Dabei wird dann vergessen, dass man vor Zeugen spricht. Daraus folgt die "Cancel-Culture": Ich selbst spitze zwar zu, möchte aber keinesfalls mit der gegenteiligen Meinung konfrontiert werden. Ich agiere zwar in der Öffentlichkeit, diese soll sich aber so aufgeräumt darstellen, als ob sie mein eigenes trautes Heim wäre!

STANDARD: Wird dabei nicht unausgesetzt universalistisch argumentiert? Gleiche Rechte für alle? Zugleich wechseln manche Empörte rasch in den Modus des Parteilichkeit.

Stegemann: Das ist das Phänomen einer Spätkultur. Die Aufklärung steht am Beginn der bürgerlichen Gesellschaft: Freiheit, Gleichheit, Solidarität. Die Werte basieren auf dem Grundvertrauen, dass alle erst einmal gutwillig sind. Dieses Vertrauen unterliegt heute einem Erosionsprozess, der von der Ideologie des Neoliberalismus beschleunigt wird. Denn hierbei geht es darum, dass sich alle auf dem Markt behaupten müssen. Alle Menschen befinden sich unaufhörlich in Konkurrenz zueinander, und zwar im Globalmaßstab. Das führt zu einer Verunsicherung, die jede Solidarität verunmöglicht.

STANDARD: Und die Gleichheit?

Stegemann: Sie wird nicht mehr juristisch begriffen. Gefordert wird inzwischen eine Art Ergebnisgleichheit. Alle sollen auf dieselbe Art erfolgreich sein. Das widerspricht jedoch der Unterschiedlichkeit der Menschen. Es gibt zwei Wege des Gegensteuerns: Man stellt eine Chancengleichheit her. Jedes Kind soll, unabhängig von seiner Herkunft, möglichst gute Bildungschancen eingeräumt bekommen. Die "neue" Politik der Identitäten versucht hingegen, das Problem durch Quoten für verschiedene Gruppen zu lösen. Und die Freiheit? Durch die offensichtliche Zersplitterung der Öffentlichkeit erleben immer mehr Menschen die Freiheit als bedrohliches Chaos. Die Lust schwindet, sie mit allen ihren Folgen zu ertragen.

STANDARD: Liegt dem die Idee der moralischen Reinheit zugrunde?

Stegemann: Moral ist die große Ordnungsinstanz. Und der Moralismus ersetzt die allgemeingültige Ethik durch die privaten Vorlieben. Alles soll so rein sein wie die schöne Seele, für die man sich selbst hält.

STANDARD: Sie unterscheiden die Sozial- von der "Künstlerkritik". Letztere plädiert für die Entfaltung des Indviduums. Hat uns der Neoliberalismus mit seiner Verpflichtung zur Selbstoptimierung den Individualismus entwendet?

Stegemann: Die Sehnsucht des Bürgers war es immer, ein einzigartiges Individuum zu werden, ein unverwechselbares "Ich". Darum ist der Bürger im 19. Jahrhundert auch so gerne ins Theater gegangen, weil er sich erhofft hat, dort Menschen in all ihrer Vielschichtigkeit vorgeführt zu bekommen. Eine stark entlastende Erfahrung. Wenn Emma Bovary ihren Ehebruch begeht, dann kann ich das im Roman genussvoll nachlesen und darf weiter verheiratet bleiben. Diese allgemeine Sehnsucht hat sich der Kapitalismus unter dem Begriff der "Kreativität" unter den Nagel gerissen. Er hat zum Beispiel das sich selbst perfektionierende Subjekt in den 1990ern zum Gegenstand des "Toyotismus" gemacht.

STANDARD: Was versteht man darunter?

Stegemann: Fließbandarbeit ist nicht wünschenswert, weil sie abstumpft. Also werden Kreativteams gebildet, die zu fünft Aufgaben lösen. Aus jedem Fließbandarbeiter soll ein "creative worker" werden. Prompt wurde die Produktivität gesteigert. Von da aus verbreitete sich das Modell auf sämtliche Arbeitsfelder. Wer bei "McDonald’s" Burger verkauft, muss so tun, als würde er diese Tätigkeit mit Leidenschaft ausüben. Arbeit soll nicht mehr entfremdet sein, sondern dem ureigensten Interesse entsprechen. Darin liegt auch manches Gute. Natürlich ist kooperatives Arbeiten erfüllender. Aber das Kapital verfolgt eigene Interessen, und so werden aus den fünf Arbeitern plötzlich drei, und die sollen wieder dasselbe leisten. Seitdem lastet der Druck auf jedem Arbeitnehmer: Er muss immer mehr schaffen in immer weniger Zeit.

STANDARD: Nichts ist sicher?

Stegemann: Wenn die permanente Selbstoptimierung auf jeden Arbeitsvorgang angewendet wird, dann löst das furchtbaren Stress aus.

STANDARD: Was wird aus der Notwendigkeit, für die Angehörigen von Minderheiten Teilhabe zu erwirken? Sie lehnen das Verständigungskonzept von Jürgen Habermas ab, seine Idee, wir würden uns von gleich zu gleich verständigen.

Stegemann: Ich lege das Konzept der "deliberativen Öffentlichkeit" nicht ad acta. Es hat sich nur seit den 1980er-Jahren verändert. Es ist nicht mehr die wertfreie Beschreibung eines Diskurses, sondern ein Herrschaftsmittel geworden: Diejenigen, die über eine gehobene Sprache verfügen, die die "besseren" Worte kennen, können sich auch unangreifbarer machen in der politischen Diskussion. Aber auch das neue Modell der Identitätspolitik bringt neue Ungleichheiten hervor. Empfindlichkeit und Gefühle sind diskurstechnisch nichts, was sich verallgemeinern lässt. Ich muss glauben, dass der andere verletzt ist. Er kann es nicht beweisen, und ich kann ihm nicht das Gegenteil beweisen. Dadurch passiert eine Überführung in die "Intimkommunikation". Das Gefühl des einen wird geglaubt, und es wird mit Verständnis darauf reagiert.

STANDARD: Die Folge?

Stegemann: Wenn man das auf Öffentlichkeit überträgt, führt das zu einem unlösbaren Problem. Wessen Gefühle werden von wem und warum geglaubt? Die Konsequenz ist, dass Probleme nicht mehr rational verhandelbar sind. Es heißt dann, dem Opfer muss immer und unter allen Umständen geglaubt werden. Damit aber wird das Opfer in den Stand der Unfehlbarkeit erhoben, und der Diskurs findet ein abruptes Ende. Es bleibt nur noch die Unterwerfung: Ab nun sagst du, wie es weitergeht. Das Opfer ist der neue Chef. Aber wer ist das Opfer? Es gibt ständig neue Opfergruppen, und es treffen nur noch Absolutheitsansprüche aufeinander. Aber unfehlbare Päpste können nicht miteinander diskutieren. (Ronald Pohl, 17.4.2021)