Obwohl sich die Probleme häufen, wirkt Sebastian Kurz nie angeschlagen oder gar angezählt – doch die perfekte türkise Fassade bekommt immer mehr Risse.

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Bei den Auftritten von Sebastian Kurz (ÖVP) sitzt immer noch alles perfekt: der Anzug, die Frisur, aber vor allem seine Sätze. So gut wie nie unterläuft dem Kanzler ein hastiger Versprecher. Langatmiges Geschwurbel ist ihm sowieso fremd. Nach wie vor kommt das bei seiner Anhängerschaft und beim Boulevard gut an, die seine neuesten Botschaften dann so rasch wie möglich weiterverbreiten.

Doch hinter der perfekten Fassade tun sich unübersehbare Probleme auf. Den dritten Abgang in seiner türkis-grünen Regierungsriege hatte Kurz in dieser Woche zu verzeichnen. Der Juniorpartner setzt immer öfter auf unberechenbare Aktionen. Dazu sind die Beliebtheitswerte des Kanzlers stetig im Sinken.

Damit nicht genug: Die Justiz und die Opposition wollen an sein stets griffbereites Handy, um endlich höchst fragwürdige Vorgänge in der Republik aufzuklären. Und bereits beschlagnahmte Smartphones seiner Parteikollegen sorgen für hohe Nervosität.

Im Gegensatz zu anderen Regierungsmitgliedern wirkt Kurz deswegen aber noch lange nicht angeschlagen oder gar angezählt. Nach außen hin steckt der Kanzler bis dato alle Troubles gekonnt weg – und sendet unverdrossen strahlende Ich-Botschaften ans Corona-geplagte Volk aus. Zuletzt etwa, dass er fürs zweite Quartal rund eine Million "zusätzliche" Impfdosen von Biontech/Pfizer auftun konnte. Dass diese Österreich nach vereinbartem EU-Schlüssel ohnehin zustünden, tut er als akademische Diskussion ab.

Unberechenbarer U-Ausschuss

Doch öffentliche Debatten über ihn lassen sich nicht mehr so einfach einfangen wie unter seinem ersten türkis-blauen Kabinett oder zu Beginn der Pandemie. Die Zeiten, in denen das Kanzleramt, penibel eingetaktet, ständig eigene Themen setzen konnte, sind vorbei. Die berüchtigte Message-Control ist damit perdu, denn immer öfter muss das verschworene Team Kurz nun reagieren, statt zu agieren.

So freute sich die Republik vor dem Wochenende nicht nur über die neuen Impfdosen, sondern diskutierte auch über das Wiederaufleben der ÖVP-Schredderaffäre, in der die Justiz neue Ermittlungen gestartet hat. Denn das heimliche Vernichten von Festplatten aus dem Kanzleramt fügt sich in eine lange Liste von fragwürdigen Vorgängen ein, die das Image des Kanzlers und seines engsten Umfelds zunehmend beschädigen.

Doch vorerst gilt vieles davon noch eher als peinlich denn als strafrechtlich relevant: etwa die Busserl-Emojis und flapsigen Chats, die Kurz, der jetzige Chef der Staatsholding, Thomas Schmid, und der nunmehrige Finanzminister Gernot Blümel (ÖVP) einander geschickt haben. Oder dass Letzterer sein Handy laut Ermittlern unter dem Pseudonym "Danilo Kunhar" angemeldet hatte. Und dass Blümels Frau kurz vor der Hausdurchsuchung mit dem gemeinsamen Laptop spazieren ging.

Dazu kommen freilich neue Gerüchte, die von politischen Gegnern genüsslich in den sozialen Netzwerken verbreitet werden – über intime Fotos auf sichergestellten Smartphones wird da genauso spekuliert wie über wilde Partys. Doch politisch gilt auch das bis dato als irrelevant, denn auch frühere Landeshauptleute und Regierungsmitglieder haben derartige Kampagnen bisher stets nahezu unbeschadet überstanden.

Kurz und der Koalitionspartner

Als weit gefährlicher sind da etwaige nächste Schritte der Ermittler und Ankläger einzustufen. Denn wer den Akt zur Causa Casinos studiert, kann sich des Eindrucks kaum erwehren, dass die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft derzeit wie ein Rudel Löwen um die ÖVP kreist – und nur darauf wartet, das verwundbarste Mitglied der türkisen Herde zu identifizieren.

Diese nach wie vor diffuse Gemengelage eröffnet für den Juniorpartner bisher ungeahnte Möglichkeiten und Hebel: Nach der Hausdurchsuchung bei Finanzminister Blümel im Februar brachten die Grünen plötzlich langjährige Forderungen durch – etwa die Einführung eines unabhängigen Bundesstaatsanwalts oder ein Antikorruptionspaket.

Und diese neu gewonnene Macht sorgt dafür, dass die Koalitionäre nach wie vor hochverlässlich in geeinter Formation auftreten. Selbst nach dem denkwürdigen Abgang von Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) samt dessen Spitzen in Richtung Kanzler Kurz wird der Schein gewahrt.

Nachtreten und Querschüsse

Doch hinter den Kulissen bleiben einander Türkis und Grün in Sachen schlechte Nachrede und überraschende Querschüsse nichts mehr schuldig. Denn ihrem "Rudi" sei von Kurz selbst noch im Krankenstand "nachgetreten worden, heißt es aus den Reihen von Kogler, Maurer und Co. Doch der Vizekanzler und die Klubchefin selbst sind nach außen hin weiterhin bemüht, das Bild einer völlig intakten Regierungspartnerschaft zu wahren.

Intern beruhigen sie selbst die heißblütigsten Gemüter. Und so bleibt der Tenor beim Juniorpartner in Gesprächen hinter vorgehaltener Hand stets derselbe: "Wir haben immer schon gewusst, wie die sind", heißt es da – und gemeint sind damit Kurz und seine überwiegend männlichen Vertrauten.

Daher wird als kämpferische Parole bei den Grünen weiterhin ausgegeben: Man schmeiße sicher nicht hin, das komme überhaupt nicht infrage – und zwar weil es bei der ebenfalls angeschlagenen Kanzlerpartei nun inhaltlich all das durchzusetzen gelte, was aus grüner Sicht durchzusetzen ist: Corona-Hilfen mit sozialem Anstrich für die Schwächsten der Gesellschaft sowie ihre wichtigen Umwelt- und Klimaagenden – auch wenn das von ihnen so begehrte 1-2-3-Ticket sowie eine ökosoziale Steuerreform noch immer in weiter Ferne liegen.

Als Antikorruptionspartei haben die Grünen ihre Grenzen in der Koalition da schon deutlicher aufgezeigt: Sie sprechen ihren Unmut über Missstände und Verdachtsmomente in der Kanzlerpartei aus, vor allem die Funktionäre in der zweiten und dritten Reihe zeigen da Flagge – was die ÖVP zunehmend enerviert. Man hatte offenbar mit einem devoteren Partner gerechnet.

Neues Selbstbewusstsein

Das Selbstbewusstsein der Grünen kommt beim Koalitionspartner daher gar nicht gut an – vor allem weil ihre beiden Abgeordneten Nina Tomaselli und David Stögmüller im U-Ausschuss auch keinerlei Scheu vor ständig neuen Konflikten mit der Kanzlerpartei zeigen.

Aus der ÖVP setzte es deswegen schon wilde Attacken, etwa wegen angeblich grüner Postenschachereien. Auch an das so nervige Einzelkämpfertum von Anschober, der sich selbst bei der Bewältigung der Pandemie oft alleingelassen fühlte, wird dort in diesen Tagen lebhaft erinnert.

Die beiden Abgeordneten Nina Tomaselli und David Stögmüller zeigen im U-Ausschuss keinerlei Scheu vor ständig neuen Konflikten mit der Kanzlerpartei.
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Dennoch hält die beiden Regierungspartner "ein Bündel an negativen Faktoren zusammen", wie der Politikwissenschafter Peter Filzmaier analysiert: So können wegen der anhaltenden Corona-Krise sowohl Kurz als auch Kogler mittelfristig keinesfalls Neuwahlen gebrauchen.

Hintergrund: Laut aktueller Market-Umfrage für den STANDARD würden Ersteren nur mehr 29 Prozent direkt zum Kanzler wählen, im Vorjahr waren es noch 52 Prozent. Den schlechtesten Wert von allen Parteichefs verzeichnet hier der Grünen-Chef – ihm würden nur mehr fünf Prozent ihre Stimme für eine Regentschaft am Wiener Ballhausplatz geben. Erstmals kommt Türkis-Grün zudem in mehreren Umfragen auf keine Mehrheit mehr.

Mangel an Alternativen

Die beiden Parteien aus unterschiedlichen Welten kettet derzeit auch "der Mangel an Alternativen" aneinander, konstatiert Filzmaier: Bei einem vorzeitigen Urnengang müssten die Grünen auf eine Mehrheit mit Rot-Pink hoffen, wenn sie nicht wieder jahrelang in der Opposition landen wollen. Kurz wiederum sei seit seinen Jugendtagen davon überzeugt, mit der SPÖ gehe sowieso nichts – und der Weg zurück zur FPÖ ist ihm wegen des Auftretens von Klubchef Herbert Kickl vorläufig versperrt.

Das Fazit des Experten: "Türkis-Grün fehlt es an positiven Zielen, dafür herrscht ein schlechter Stil wie zu den schlimmsten Zeiten von Rot-Schwarz." Doch gerade deren Neuauflage im Jahr 2007 habe gezeigt, dass all das nicht automatisch ein Koalitionsende bedeuten müsse – immerhin hatten sich Sozialdemokraten und Bürgerliche dann ein Jahrzehnt lang tagein, tagaus miteinander zusammengerauft.

Lauernde Länder

In der Bundespartei hält Kurz die Zügel nach wie vor fest in der Hand, da sitzen enge und loyale Vertraute an allen wesentlichen Hebeln – und wer nicht pariert, wird aus der türkisen Truppe ausgeschlossen. Dafür lauert wie für jeden ÖVP-Chef eine andere Gefahr: Denn die mächtigen Landeshauptleute blicken mit zunehmender Skepsis nach Wien: weil womöglich noch peinlichere Chatprotokolle auftauchen könnten, aber auch wegen des umstrittenen Krisenmanagements in der Corona-Krise.

Ganz schlecht an kommen auf dem Land die Angriffe auf die Kirche und der herablassende, spöttische Ton gegenüber Kirchenvertretern, die durch Chats zwischen Kurz und Öbag-Chef Schmid publik wurden. Und noch ärgere Verstöße gegen die guten Sitten wären in den ruralen Gegenden noch schwieriger zu verdauen als in den städtischen Gebieten. Dass sich Kurz in den Chats einst auch über Gespräche mit den Länderchefs flapsig geäußert hat, ist zu diesen bis dato offenbar noch gar nicht durchgedrungen.

Dass der Kanzler bei der Bewältigung der Pandemie aber nicht mehr uneingeschränkt das Sagen hat, musste er bereits mehrmals etwa in der Auseinandersetzung mit den Salzburgern zur Kenntnis nehmen. Ende Jänner machte Landeshauptmann Wilfried Haslauer (ÖVP) dem Bundesparteichef unmissverständlich klar, dass dessen Macht an seiner Landesgrenze endet. Kurz hatte zuvor – wohl auch mit Blick auf die veröffentlichte Meinung – jene Bürgermeister gerügt, denen "Impfdränglerei" vorgeworfen worden war.

Richtig gehandelt

Haslauer jedoch verteidigte seine Bürgermeister in einem veröffentlichten Schreiben. Die Ortchefs hätten richtig gehandelt, sie seien ja schließlich auch für die Seniorenheime zuständig, lautete seine Replik. Der Zusammenhalt der Landespartei war Haslauer ganz offensichtlich wichtiger als die Abmahnungen durch den Bundeskanzler. Ohne Unterstützung der Bürgermeister lässt sich eben auch die nächste Landtagswahl nur recht schwer gewinnen.

Ende Jänner machte Landeshauptmann Wilfried Haslauer (ÖVP) dem Bundesparteichef unmissverständlich klar, dass dessen Macht an seiner Landesgrenze endet.
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Seit dem Knatsch rund um die Bürgermeisterimpfungen fällt zudem auf, dass die Salzburger ÖVP immer öfter ihre Eigenständigkeit betont. Formal ist sie im Innenministerium auch als eigenständige Partei registriert – und die Farbe Schwarz habe man selbst in den strahlendsten Tagen des Kanzlers beibehalten, betonen die Parteifunktionäre unisono.

Tirols Landeshauptmann Günther Platter lässt sich bei seiner Corona-Politik auch kaum dreinreden, Ischgl hin oder her. Und vor einem Jahr galt ebenfalls noch als undenkbar: dass sich der steirische Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer öffentlich über das die Planlosigkeit der Regierung in Wien in Sachen Corona-Krisenmanagement lustig macht. Immer öfter witzelt man in den Ländern auch über die Buberlpartie in Wien.

Einen baldigen Aufstand der Landesfürsten oder gar eine von ihnen angezettelte Obmanndebatte kann Politologe Filzmaier derzeit allerdings nicht ausmachen – aus pragmatischen Gründen.

Denn nach wie vor könne Kanzler Kurz für seine Partei noch seine Erzählung aufrechterhalten, dass er einst die ÖVP bei abgesandelten zwanzig Prozent an Umfragewerten übernommen habe – und mit ihm an der Spitze gewännen auf lange Sicht auch alle Landeshauptleute. Im Herbst wird in Oberösterreich gewählt und dort stellt sich für Thomas Stelzer, in Koalition mit der FPÖ, nur "das Luxusproblem", wie viel er diesmal dazugewänne.

Explosive Lieferungen

Das nächste Landtagssuperwahljahr stünde erst mit 2023 an, wo als Erste die Niederösterreicher unter Absolutistin Johanna Mikl-Leitner an die Urnen gebeten werden, danach sind erst die Salzburger, die Tiroler und die Kärntner dran. Bedeutet: Solange sich rund um Kurz "keine Anklageerhebungen auftun", werde in der Kanzlerpartei auch nicht am Stuhl des Obmannes gesägt, ist Filzmaier überzeugt.

Fix ist jedenfalls, dass weiterhin pikante Chatprotokolle an den Ibiza-U-Ausschuss geliefert werden, erst unlängst wurde dieser bis 15. Juli 2021 verlängert – und erst dann ist damit Schluss. Die strafrechtlichen Ermittlungen gegen zahlreiche türkise (Ex-)Minister und deren Umfeld dürften jedoch für noch unabsehbare Zeit weiterlaufen. Und für Kanzler Kurz ebenfalls höchst unangenehm: Schon im Herbst dürfte sich dann wohl schon der nächste U-Ausschuss auftun. Denn in den rot-blau-pinken Oppositionsparteien gilt bereits als ausgemacht, dass man dann einen U-Ausschuss rund um die Beschaffungen zur Bewältigung der Corona-Krise einsetzen möchte.

Politisch neues Ungemach

Ist die Pandemie bis dahin noch nicht überwunden oder dräuen weiterhin gefährliche Corona-Mutationen, droht auch politisch neues Ungemach. Denn anders als die doch recht abstrakten und komplizierten Debatten rund um Postenschacher in den staatsnahen Betrieben, geht es dann im neuen Aufklärungsgremium um Fragen, die im anhaltenden Corona-Schlamassel doch alle Bürgerinnen und Bürger recht hautnah betreffen.

Weil mit Gesundheitsminister Anschober und Impfkoordinator Clemens Martin Auer bereits zwei wichtige Köpfe die politische Bühne verlassen haben, könnte sich der Ärger dann vor allem auf Kurz und seine ÖVP entladen.

Denn im nächsten U-Ausschuss soll es genau darum gehen, was der Kanzler und sein Stab in den letzten Wochen so heftig angeprangert haben: verpasste Gelegenheiten für eine Bestellung zusätzlicher Impfdosen. Oder auch etwaige Maskendeals mit Firmen aus dem türkisen Universum.

Und dann könnten abermals noch ein paar Masken fallen. (Thomas Neuhold, Fabian Schmid, Michael Völker, Nina Weißensteiner, 18.4.2021)