Wissenschaftlich ist nach wie vor nicht eindeutig belegt, dass die Wirksamkeit von Akupunktur über den Placeboeffekt hinausgeht.

imago images/Panthermedia

Der designierte Gesundheitsminister kommt vom Fach: Wolfgang Mückstein ist Allgemeinmediziner und ärztlicher Leiter einer Gruppenpraxis im sechsten Wiener Gemeindebezirk. Neben seinem Medizinstudium führt Mückstein in seinem Lebenslauf auch eine Zusatzausbildung an: nämlichen ein Bachelorstudium in traditioneller chinesischer Medizin (TCM), das er von 2003 bis 2005 und unmittelbar nach seinem Medizinstudium absolvierte. Und unter der Rubrik "Zusätzliche Qualifikationen" findet sich auf seiner Homepage neben Substitutionstherapie auch noch TCM.

Das hat insbesondere in den sozialen Medien prompt für einige Aufmerksamkeit und Fragen gesorgt. Deutet eine TCM-Zusatzausbildung auf ein "ganzheitlicheres" Bild von Gesundheit und Krankheit hin als jenes, das die sogenannte Schulmedizin hat? Oder ist der TCM-Bachelor ein Zeichen dafür, dass Mückstein – wie andere Grüne – ein Faible für alternativmedizinische Ansätze hat, die in Wahrheit nichts anderes als Pseudowissenschaft sind? Wie steht es ganz grundsätzlich mit der Akzeptanz und Evidenz dieser uralten chinesischen Lehre?

Verschiedene Heilmethoden

Zunächst wäre klären, was überhaupt unter TCM fällt – was nicht so einfach ist. Unter dem Begriff werden verschiedene Heilmethoden aus China zusammengefasst, die vor mehr als 2.000 Jahren entstanden sind, was auch eine einheitliche Einschätzung schwierig macht. Dazu gehören Akupunktur, Qigong (Atem- und Bewegungsübungen), Tuina (manuelle Therapie), die chinesische Arzneimitteltherapie sowie die "Diätetik", die Lebensmittel nach ihrer Wirkung klassifiziert. Die Behandlungsmethoden wurden nicht systematisch entwickelt, sondern als Erfahrungsberichte weitergegeben.

Zu den Grundkonzepten der TCM zählen die Lebenskraft Qi, die laut dieser Lehre durch sogenannte Meridiane (eine Art von Energielinien) fließt, sowie das Gegensatzpaar Yin und Yang. Diese Grundelemente entziehen sich allerdings einer konkreten Beobachtung nach erfahrungswissenschaftlichen Maßstäben.

Krankheiten werden als Resultat eines gestörten Gleichgewichts zwischen diesen Gegensätzen gesehen. Ziel einer TCM-Behandlung ist es daher, das verlorene Gleichgewicht der Kräfte im Körper wiederherzustellen sowie Yin und Yang zu versöhnen. Bei der Akupunktur etwa werden Nadeln in die Haut gestochen, um an bestimmten Punkten der Meridiane den Fluss des Qi umzulenken und so die Gesundheit wiederherzustellen.

Mehrere Ausbildungsangebote

Wie andere alternativmedizinische Methoden erfreut sich TCM in Österreich seit etlichen Jahren großer Beliebtheit. Dementsprechend gibt es auch einige Ausbildungsangebote: Von 2004 bis 2009 konnte man sich auf der TCM Privatuniversität in Wien für Bachelor- und Masterstudien inskribieren. 55 Studierende schlossen ihr Studium ab, 23 Studenten absolvierten einen Universitätslehrgang. Danach lief die Akkreditierung aus.

Aktuell bieten mehrere Institutionen in Österreich Kurse zur chinesischen Diagnostik und Arzneitherapie an, die dem Curriculum der Österreichischen Ärztekammer entsprechen. So hat etwa auch die Medizinische Universität Wien einen fünfsemestrigen berufsbegleitenden Universitätslehrgang für Grundlagen und Praxis der TCM im Programm, Kostenpunkt: knapp 20.000 Euro.

Die Med-Uni Wien evaluiere derzeit, "ob der von ihr angebotene Lehrgang dem fachlichen und inhaltlichen Anspruch der Universität und den Erwartungen der Teilnehmer entspricht", heißt es auf STANDARD-Anfrage. Grundsätzlich versicherte man seitens der Med-Uni Wien, "dem Prinzip der evidenzbasierten Medizin verpflichtet" zu sein.

Uneinheitliche Studienlage

Doch wie evidenzbasiert sind nun die Heilmethoden der TCM? Ein Problem ist, dass die Studienlage recht uneinheitlich sei, wie einer der Professoren der Med-Uni Wien, der Public-Health-Experte Andreas Sönnichsen, sagt. Ein Beispiel ist die Akupunktur, eines der zentralen Heilkonzepte der TCM. Zwar gibt es eine ganze Reihe von Untersuchungen, die positive Effekte der gezielt gesetzten Nadelstiche dokumentierten. Doch auch "Scheinakupunktur", bei der die Nadeln nicht an den Meridianen gesetzt wurden oder zu wenig tief gestochen wurden, zeigte positive Wirkung.

"Während die Bewegungstherapie Qigong ähnliche Effekte wie beispielsweise Yoga haben kann und in der chinesischen Pflanzenheilkunde durchaus Wirkstoffe enthalten sein können, beschränkt sich die Akupunktur höchstwahrscheinlich auf den Placeboeffekt", resümiert die Medizinerin Natalie Grams in ihrem im Vorjahr erschienenen Buch "Was wirklich hilft. Kompass durch die Welt der sanften Medizin". Grams hat ihre Dissertation über die Sicherheit von TCM-Heilkräutern geschrieben, betrieb dann eine Homöopathie-Praxis, ehe sie zur "Aussteigerin" wurde und sich die Aufklärung über alternative Heilmethoden zur Berufung machte.

Sönnichsen wiederum, der das Wahlfach "Komplementärmedizin: Esoterik und Evidenz" an der Med-Uni Wien leitete, verweist darauf, dass das Studiendesign vieler Untersuchungen zur Wirksamkeit von TCM den wissenschaftlichen Qualitätskriterien meist nicht standhält. Es gäbe Verzerrungen durch Patientenselektion, fehlende Verblindung und zu kleine Patientengruppen.

Wenig wissenschaftliche Evidenz

"Wenn man das berücksichtigt, bleibt von der wissenschaftlichen Evidenz für die Wirksamkeit von TCM nicht viel übrig", so Sönnichsen, der in der Corona-Krise durch einige umstrittene Aussagen etwa zum Schutz von Masken auffiel.

Anhänger und Befürworter der TCM sehen das naturgemäß anders: "Doppelblindstudien sind nicht das geeignete Forschungsinstrument für eine ganzheitliche Betrachtung, individuelle Diagnostik und Therapie", sagte etwa die TCM-Ärztin Verena Baustädter, die auch die Fortbildungseinrichtung Wiener Schule für TCM leitet, 2019 im STANDARD.

Während die "westliche" klinische Forschung nach einzelnen Wirkstoffen suche, die gezielt gegen ein bestimmtes Symptom wirken, sind die Heilmittel der TCM oft eine Mischung aus einem Dutzend oder mehr Inhaltsstoffen mit Mechanismen, die sich nicht auf einen einzigen Faktor reduzieren lassen. Zudem habe die TCM den ganzen Körper im Blick und bemühe sich um individuelle Behandlungsmethoden.

Anerkennung aus Genf und Stockholm

Anerkennung für die TCM gab es zuletzt freilich auch durch das Nobelpreiskomitee in Stockholm und die Weltgesundheitsorganisation WHO: 2015 gewann die chinesische Pharmakologin Tu Youyou den Nobelpreis für Medizin für die Entdeckung des Wirkstoffs Artemisinin, der Malaria heilen kann. Tu Youyou hatte das Mittel nach Anleitung einer 1.600 Jahre alten Schrift aus dem Extrakt chinesischer Heilpflanzen gewonnen. Artemisinin sei damit "ein Geschenk der traditionellen chinesischen Medizin an die Menschen der Welt", so Tu Youyou.

Die WHO wiederum nahm TCM 2019 nach langjährigen Bemühungen von TCM-Unterstützern und chinesischer Lobbyarbeit in ihr einflussreiches Medizinkompendium auf (wenn auch nur als Diagnoseform) was prompt zu heftiger Kritik aus der Wissenschaft führte. Besonders harsch fiel ein Editorial der führenden Wissenschaftszeitschrift "Nature" aus, das einleitend unter anderem auf die Herstellung von Eselhautgelatine einging, eines beliebten TCM-Heilmittels, mit dem jährlich knapp zwei Milliarden Euro Umsatz gemacht werden.

Der Schlusssatz des Kommentars in "Nature": "Die Verbindung der WHO mit Behandlungsformen, die nicht ordnungsgemäß getestet sind und sogar schädlich sein könnten, ist inakzeptabel für jenes Gremium, das die größte Verantwortung und Macht hat, die menschliche Gesundheit zu schützen." (Eja Kapeller, Klaus Taschwer, Julia Palmai, 17.4.2021)