Heute wissen wir ganz genau, was wie oft gestreamt wird – aber sagt das etwas über die Qualität des Musikkonsums aus?

Foto: Fatih Aydogdu

"Die Hitparade ist das basisdemokratischste Instrument eines Landes, wenn es um den Musikgeschmack der meisten Leute geht. Wenn zu Weihnachten jedes Jahr Last Christmas in den Charts ist, sagt uns das, was die Menschen so bewegt, dass sie dafür Geld ausgeben", sagt Andy Zahradnik. Er muss es wissen. Er errechnet mit der GfK-Entertainment im Auftrag der Austria Top 40 wöchentlich die Charts. Und er weiß, was die Leute in Österreich hören.

Vergleicht man heute die Single- und Albumcharts, tun sich zwei Welten auf. Man könnte es auch einen Generationenkonflikt nennen. Die Singlecharts konstituieren sich heute stark aus dem, was eine jüngere Generation streamt, Alben dagegen werden von der etwas älteren Generation noch deutlich öfter physisch, auf Platte oder CD, gekauft.

Onkel Heinzi vs. Michi

Ein Blick auf die Austria Top 40 Jahrescharts 2020 illustriert das gut. Auf der einen Seite die Singles, angeführt von The Weeknd mit Blinding Lights, auf Nummer zwei Saint Jhn mit Roses, einem Song, der auf Tiktok viral ging und so seinen Weg in die Charts fand. Eine Nummer eines heimischen Künstlers gibt es dagegen keine. Blick rüber zu den Alben: AC/DC gefolgt von Andreas Gabalier. Überhaupt findet sich einiges an Schlager aus der Heimat in den Albumcharts.

Überspitzt ausgedrückt: Onkel Heinzi holte sich das Album Lederhosenrock von Melissa Naschenweng als CD im Geschäft, während sein Sohn Michi ein paar Tracks von Deutschrapper Apache 207 auf Spotify ballerte. Das ist auch der Grund, warum gerade Rapper aufwendig mit Goodies bestückte Albumboxen auf den Markt werfen, weil die Fans ein Kapperl oder eine Gürtelschnalle nicht streamen können. So ist auch Michi "gezwungen", letztendlich doch das physische Produkt zu erwerben. Diese Strategie funktioniert. Raf Camora rangiert in den Austria-Top-40-Albumcharts von 2020 mit seinem Album Zenit gleich auf Nummer drei hinter Gabalier.

Wie errechnen sich die Austria Top 40 nun genau? Es sind Verkaufscharts, also geht es um wöchentliche Verkäufe. Ein Download zählt genauso als ein Verkauf wie eine CD, die über den Ladentisch wandert. Nur dass die Verkäufe von Downloads in den letzten Jahren bis zur Irrelevanz zurückgegangen sind und zuletzt sogar von Vinylverkäufen überholt wurden.

100 Streams sind eine Einheit

Relevanter sind heute – Sie ahnen es – die Streams, und da wird es sogleich spannender: Eine Nummer muss auf einem Premium-Account eines Streamingdienstes mindestens 30 Sekunden lang gespielt worden sein, um zu zählen. Aber erst 100 solcher Streams ergeben eine Verkaufseinheit. Das ist übrigens bei den maßgebenden amerikanischen Billboard Charts nicht anders.

Es verwundert daher nicht, dass Stars wie Justin Bieber ihre Fans bitten, ihr Werk auch im Schlaf zu streamen, um den Nummer-eins-Hit zu garantieren. Hohe Chartplatzierungen sind ein Statussymbol. Auch Chart-Manipulationen – wenn also Bots programmiert werden, um Titel zu streamen – waren in den letzten Jahren immer wieder Thema in der Branche.

Streaming machte neue Regeln für die Singlecharts nötig, als nun fast ganze Alben in ihnen aufzuscheinen begannen. Bei den Austria Top 40 war das erstmals 2018 der Fall: 13 Nummern des Albums Palmen aus Plastik 2 von Raf Camora und Bonez MC waren unter den Top 15 zu finden. Nach englischem Vorbild – dort hatte man das Problem bereits im Jahr davor mit Ed Sheerans Album – beschloss man, nur noch drei Nummern pro Album in den Singlecharts zuzulassen.

Andy Zahradnik erinnert sich noch gut an diesen Tag. "Früher hat die Veröffentlichungsstrategie von Labels nicht zugelassen, dass es mehr als eine Single am Markt gab. Aber wir wussten, dass das auf uns zukommt." Er gibt uns eine Geschichtsstunde: So hat sich der Name Top 40 deswegen etabliert, weil die mit einem Zählwerk ausgestatteten Jukeboxes in den USA genau Platz für 40 Singles hatten, erzählt er. "Was am meisten Dimes gefressen hat, war also der Tophit." Zahradnik meint, dass wir heute eigentlich wieder genau dort sind, wo alles mit dem kleinen Zählwerk angefangen hat: "Das, was heute am meisten genutzt wird, also gestreamt wird, ist jetzt die Nummer eins in der Woche. Früher hast du dir etwas gekauft oder downgeloadet, und niemand wusste, wie oft du dir das um die Ohren gehaut hast. Heute wissen wir’s."

Der Vibe im Vordergrund

Quantitativ betrachtet ist das sicherlich richtig. Aber wie schaut es mit der Qualität des Musikkonsums aus? Christoph Kregl, Manager von Bilderbuch und Mavi Phoenix, sieht das durchaus kritisch: "Früher haben die Charts eine proaktive Handlung abgebildet, ‚Ich gehe ins Geschäft und kaufe mir eine Maxisingle von meiner Lieblingskünstlerin‘, im Gegensatz zu heute, wo man sich die Sonne-Strand-Frühling-Playlist anhört. Solchen Konsumentinnen und Konsumenten ist in den meisten Fällen herzlich egal, welcher Track von welcher Künstlerin abgespielt wird, es geht vielmehr um einen Gesamtvibe." Er schlussfolgert: "Charts sind heute also eine Kumulation von aktiven und passiven Streams. Würden wir nur aktive Handlungen heranziehen, um Charts zu bemessen, würden die Charts wohl ganz anders aussehen."

Überspitzt gesagt ergibt sich eine paradoxe Situation: Heute bilden zumindest die Singlecharts, Streaming sei dank, genauer denn je ab, wie oft eine Nummer abgespielt wurde, aber wie oft sie im eigentlichen Sinne gehört wurde, sagen sie uns nicht. (Amira Ben Saoud, 17.4.2021)