Luftaufnahme des Friedhofs von Manaus vom 15. April 2021. Die brasilianische Millionenstadt am Amazonas war bereits früh durchseucht. Die dort entstandene Variante P.1 dürfte für abertausende neuerliche Infektionen gesorgt haben.

APA / AFP / Michael Dantas

Brasilia/Wien – Was passiert, wenn eine Regierung der Corona-Pandemie einfach zusieht, statt harte Maßnahmen zu ergreifen? Was in vielen Staaten Gegenstand hitziger Diskussionen ist, teils auf Demos von Maßnahmengegnern auch gefordert wird, das ist in Brasilien zu erahnen. Zwar ist das Nichtstun der Regierung auch dort nicht absolut, zwar gibt es auch dort Politikerinnen und Politiker, die gegenzusteuern versuchen – meist auf regionaler Ebene.

Doch der rechtsextreme Präsident Jair Bolsonaro weigert sich, strikte Maßnahmen in seinem Land umzusetzen. Immer wieder lobte er – auch noch in jüngster Vergangenheit – jene Landsleute, die keine Maßnahmen gegen die Pandemie ergriffen haben und die nicht "herumheulen" würden, wie Bolsonaro es formulierte.

Das Resultat ist verheerend. Brasilien wird gegenwärtig von einer weiteren Welle des Virus heimgesucht. Und auch wenn die Kurve seit vergangenem Jahr nie wirklich abgeflacht ist: So schlimm wie zuletzt war es nie zuvor. Vor einer Woche wurde mit 4.249 Toten an einem Tag ein neuer trauriger Rekord vermeldet. 26 Prozent aller weltweiten Corona-Todesfälle seien vergangene Woche auf Brasilien entfallen, das nur drei Prozent der Weltbevölkerung stellt, rechnete die Organisation "Ärzte ohne Grenzen" jüngst in einer Aussendung vor. Ihnen stehen "nur" elf Prozent aller weltweiten Infektionen gegenüber. Insgesamt sind es mehr als 360.000 Tote – das sind aber nur die offiziell bestätigten.

Besonders tragisch ist, dass in Brasilien bis jetzt 1.300 Babys an Covid-19 starben, so viele wie nirgendwo sonst auf der Welt, wie die BBC am Donnerstag ausführlich berichtete. Auch diese Katastrophe in der Katastrophe ist mangelnden Vorsorgemaßnahmen (wie fehlenden Tests) und der Situation den Spitälern geschuldet.

Katastrophale Lage in Spitälern

Das untermauert, was Expertinnen und Experten seit Monaten sagen: Sind die Intensivstationen einmal ausgelastet – was in Brasilien gegenwärtig in 21 der 27 Hauptstädte der Fall ist – überleben auch Menschen, denen bei freiem Platz im Spital geholfen werden könnte, eine schwere Covid-19-Erkrankung oft nicht. "Patientinnen und Patienten sterben ohne Zugang zu medizinischer Hilfe und das Gesundheitspersonal ist erschöpft und leidet an ernsten psychologischen und emotionalen Belastungen aufgrund der Arbeitsbedingungen", sagt der örtliche Einsatzleiter von Ärzte ohne Grenzen, Pierre Van Heddegem.

Sowohl bei den veröffentlichten Infektions- wie bei den Todeszahlen Brasiliens ist davon auszugehen, dass es sich um Untertreibungen handelt. Schon seit Beginn der Pandemie ermuntert die Bundesregierung die lokalen Behörden, bei den Covid-Tests nicht allzu penibel vorzugehen. Das schlägt sich vor allem in ärmeren Gegenden nieder, wo die Testrate gering ist – die Bedingungen für eine Verbreitung des Virus aber besonders gut.

Sauerstoffversorgung geht aus

Vielerorts passiert zudem, was zuvor schon in Teilen Afrikas, in Mexiko und derzeit in Indien zu beobachten ist: Es geht der lebenswichtige Sauerstoff für Coronapatienten aus und wird zum Konsumgut. Weil es immer wieder an Strom fehlt, mit dem Sauerstoffgeräte betrieben werden könnten, sind zur Beatmung oft Sauerstoffflaschen nötig. Für diese hat sich ein Schwarzmarkt entwickelt.

Als besonders verheerend beschreibt die Organisation Ärzte ohne Grenzen aber auch, dass die Regierung aus allen Vorsichtsmaßnahmen eine politische Frage mache. Schutz vor Corona werde als Anti-Regierungs-Statement statt als medizinische Notwendigkeit bewertet, Bolsonaro selbst sorge mit seinen Äußerungen immer wieder für Verwirrung. Dieser bewirbt, Erkenntnissen über die mangelnde Wirkung zum Trotz, noch immer regelmäßig das Medikament Hydroxychloroquin. Viele Mitglieder seiner Regierung und seiner Partei tun es ihm gleich. Den Schutz durch Impfungen zogen er und die seinen hingegen immer wieder in Zweifel.

Kritik aus der Wissenschaft

Kritik an der brasilianischen Regierung kommt indes nicht nur von Ärzte ohne Grenzen, sondern auch aus der Wissenschaft. "Die Reaktion der Regierung auf die Pandemie war eine gefährliche Kombination aus Untätigkeit und Fehlverhalten", schreiben Marcia Castro (Harvard University) und Kollegen in einem Artikel im Fachblatt "Science", der diese Woche erschien. Das Forscherteam analysierte für ihre Studie die räumlichen und zeitlichen Muster der CoV-Infektionen und -Todesfälle in Brasilien. Dabei zeigten sich für das Jahr 2020 unterschiedliche Verläufe je nach Bundesstaat – abhängig von der Umsetzung von regionalen Maßnahmen, aber auch vom Einkommensniveau der jeweiligen Regionen.

Dramatisch ist der Ausblick der Forscher angesichts der relativ neuen "brasilianischen" Variante P.1: Ohne sofortige Eindämmung, koordinierte epidemiologische und genomische Überwachungsmaßnahmen und die Bemühung, die größtmögliche Anzahl von Menschen in kürzester Zeit zu impfen, werde die Ausbreitung der neuen Variante wahrscheinlich zu unvorstellbaren Verlusten an Menschenleben führen.

Neue Erkenntnisse über P.1

Die Erklärung für die Befürchtungen liefert eine zweite Studie in "Science" nach, die neue Aufschlüsse über die Variante P.1 liefert, die 17 Mutationen aufweist. Das Team um Nuno Faria (Imperial College, London) konnte zeigen, dass die Mutationen mit einer erhöhten Bindung an den menschlichen ACE2-Rezeptor verbunden sind. Die Analyse zeigt außerdem, dass P.1 etwa Mitte November 2020 in Manaus stattfand – vermutlich auch als Folge der frühen Durchseuchung in Manaus, gegen die sich das Virus quasi selbst immunisiert haben könnte.

Faria und Kollegen schätzen, und das sind die besonders schlechten Nachrichten, dass P.1 eine um 1,7 bis 2,4-fach höhere Infektiosität als der CoV-"Wildtypus" besitzt und eine frühere (Nicht-P.1-)Infektion nur einen 54- bis 79-prozentigen Schutz gegen eine Infektion mit P.1 im Vergleich zur Schutzrate gegen Nicht-P.1-Linien bietet.

Das ist auch der Grund, warum tausende Kilometer entfernt in Whistler Mountain in Kanada große Aufregung herrschte. In diesem Skiort wurden zuletzt 872 Fälle von P.1 registriert. Das sind mehr als an jedem anderen Ort der nördlichen Hemisphäre. (Manuel Escher, Klaus Taschwer, 16.4.2021)