Am 19. April endet die Begutachtungsfrist für den Entwurf eines "Informationsfreiheitsgesetzes". Es verfolgt ganz unterschiedliche Ziele und hat sehr verschiedene Regelungsgegenstände, von denen ich hier nur einen herausheben möchte.

"Transparenz" am VfGH

Das Verfassungsgerichtshofgesetz soll geändert werden, indem ein neuer § 26 Abs. 3 nun lauten soll:

„(3) Ist der Beschluss über den Antrag oder die Entscheidungsgründe gegen die Meinung eines Mitgliedes (Ersatzmitgliedes) in der Beratung gefasst worden, so kann dieser seine Meinung in einem Sondervotum festhalten, das der schriftlichen Ausfertigung des Erkenntnisses anzuschließen ist."

Nach der bisher geltenden Rechtslage ist nicht öffentlich bekannt, ob die Richterinnen und Richter der VfGH eine Rechtsfrage einhellig beurteilt haben, oder ob es zu Divergenzen kam. Beratung und Abstimmung sind nicht öffentlich. Insbesondere sind Mindermeinungen und rechtliche Argumente, die zu diesen führen, nicht erkennbar. Das soll nun geändert werden.

Begründet wird diese Änderung in den Erläuterungen ausschließlich wie folgt: "Im Interesse der Transparenz soll beim Verfassungsgerichtshof die Möglichkeit der Abgabe und Veröffentlichung eines Sondervotums in Form einer 'concurring' oder 'dissenting opinion' (siehe zuletzt Stöger, Der VfGH als Grenzgericht und die „dissenting opinion“, in Jabloner (Hrsg.), Wirken und Wirkungen höchstrichterlicher Judikatur, 2007, 53 mwH; vgl. auch § 30 Abs. 2 des dt. Bundesverfassungsgerichtsgesetzes – dt. BVerfGG, Bekanntmachung vom 11. August 1993,dt. BGBl. I S. 1473) eingeführt werden."

Foto: APA/GEORG HOCHMUTH

VfGH ist schon lange transparent

Es sind in diesem einzigen Satz drei Argumente angelegt: 1. Transparenz 2. Literaturmeinung 3. Die Deutschen machen es auch so.

Deutschland ist zwar, je nach Bedarf, so gut wie immer negative oder positive Folie im rechtswissenschaftlichen wie auch im allgemeinen politischen Diskurs. Jedoch ist die Lage des deutschen Bundesverfassungerichts in vielerlei Hinsicht so verschieden zu der des VfGH – Größe, Stellung der Richterinnen und Richter, Bedeutung im Verfassungsgefüge, Tradition, et cetera – dass das Argument per se hier wenig bringt. Man kann dem ohne Weiteres ein "Ja, und?" entgegensetzen.

In der Literatur gibt es eine jahrzehntelange Diskussion zum Thema und keine (auch nur annähernd) einheitliche Meinung. Bleibt also die Transparenz. Das klingt immer gut. Aber was genau heißt das?

Die Entscheidungen des VfGH sind ja, schon längst, transparent, die Verhandlungen sind in allen wichtigen Angelegenheiten öffentlich, das Urteil wird öffentlich verkündet (vgl. §§ 19, 26 VfGH-Gesetz). Nicht öffentlich sind hingegen Beratung und Abstimmung (§ 30 VfGH-Gesetz). An dem soll sich durch den Gesetzesvorschlag nichts ändern. Dann ändert das Vorhaben aber überhaupt nichts "[i]m Interesse der Transparenz". Wozu dann?

Der ganz wunderbare Ivan Krastev, der in Wien lebt und arbeitet, hat auf Gefahren eines "Jeder kann sehen, was jeder tut"-Ansatzes schon 2012 hingewiesen:

TED

Und das Argument später auf die Covid-19 Krise gewendet:

Department of Innovation and Digitalisation in Law

Gefahren der Transparenz

Wenn jeder alles über jeden wissen kann, ist das nicht nur gut für einen (imaginierten) herrschaftsfreien, demokratischen rechtswissenschaftlichen Diskurs, an dessen Ende sich das bessere Argument durchsetzt. Es ist – auch – ein gutes Instrument der Stabilisierung oder Destabilisierung von Herrschaft. Es kann ein Instrument der "Andienung" an "Stakeholder oder an eine neue politische "Bewegung" sein, öffentlich zu vertreten, warum man eine Mehrheitsmeinung ablehnt oder ihr eben gerade mit einer (zusätzlichen) Begründung folgt.

Auch Verfassungsrichterinnen und -richter werden nicht im luftleeren Raum gefunden. Sie werden von der Bundesregierung sowie von Nationalrat und Bundesrat vorgeschlagen (Art. 147 B-VG). Wird öffentlich, wie sie sich später in heiklen Verfassungsfragen positionieren (oder nicht), kann das Auswirkungen auf ihre Unabhängigkeit haben und auch auf das allgemeine politische Geschehen rückwirken.

Deswegen ist es besonders wichtig, in derartigen Fragen genau zwischen Vor- und Nachteilen abzuwägen. Es ist sehr schade, dass sich dazu in den Materialien nichts findet. Umso mehr sollen bei derartigen gesetzgeberischen Entscheidungen dann diejenigen gehört werden, die davon betroffen sind, in concreto der Verfassungsgerichtshof selbst und die Richtervereinigung. Beide haben zum Gesetzesvorhaben Stellung genommen.

Dissenting opinion

Der VfGH schreibt in seiner Stellungnahme (Hervorhebungen von mir): "Festzuhalten ist, dass die vorgeschlagene Einführung von Sondervoten am Verfassungsgerichtshof mit dem rechtspolitischen Anliegen, 'staatliches Handeln transparent zu machen' [...] nichts zu tun hat. Die Transparenz gerichtlicher Verfahren ist an sich bereits dadurch gewährleistet, dass alle Betroffenen Gelegenheit erhalten, vor der Entscheidung des Gerichtes zum Gegenstand des Verfahrens Stellung zu nehmen, und dass die Entscheidung des Gerichtes eine nachvollziehbare, alle vorgebrachten Argumente angemessen berücksichtigende Begründung enthält. Die vorgeschlagene Regelung lässt zudem unberücksichtigt, dass Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes vielfach das Ergebnis einer schrittweisen Meinungs- und Willensbildung sind (vgl. § 32 VfGG), die darauf ausgerichtet ist, letztlich ein Ergebnis zu erzielen, mit dem möglichst viele Mitglieder einverstanden sein können. Die Veröffentlichung von Sondervoten erscheint daher mit dieser bewährten Arbeitsweise nicht vereinbar."

Ganz ähnlich auch die Richtervereinigung (Hervorhebungen von mir): "Die 'dissenting opinion' entspricht weder dem gewachsenen österreichischen
Verfassungsschutzsystem, noch gibt es Veranlassung oder gar Notwendigkeit für ihre Einführung. Auch die Erläuterungen lassen jede Begründung dieser Änderung vermissen. Mit dem rechtspolitischen Anliegen, 'staatliches Handeln transparent zu machen' hat diese Regelung ebenfalls nichts zu tun. Die Veröffentlichung von Minderheitsmeinungen würde va die Akzeptanz der Entscheidungen beeinträchtigen."

Vielleicht werden die Argumente, die für oder gegen die "dissenting opinion" beim Höchstgericht sprechen, ja, im weiteren Gesetzgebungsverfahren noch vorgebracht. Es wird – mal wieder – wichtig, das genauer zu beobachten. (Nikolaus Forgó, 19.4.2021)

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