Das einzige Ziel dieser Straße ist es, da zu enden, wo sich Wind und Atlantikwellen schon seit ewigen Zeiten miteinander verabreden – am St. John’s Point, dem äußersten Ende einer langen Halbinsel im County Donegal. Dort haust die Freiheit in trotziger Einsamkeit, aber dennoch sehr komfortabel. So jedenfalls wird für Übernachtungen im ehemaligen Leuchtturmwärterhaus geworben.

Geduld und Geschick

Die versprochenen Annehmlichkeiten am Atlantik warten allerdings erst nach rund elf Kilometern, so weit ragt die Landzunge in die Donegal Bay hinein. Elf Kilometer auf einer von hüfthohem Farn und feuerroten Fuchsienhecken gesäumten Straße – gemessen an den Maßstäben des ländlichen Irland verdient sie diesen Namen vermutlich sogar, sie zu befahren erfordert aber einiges an Geduld und Geschick.

Auch Kenntnisse traditioneller irischer Sprichwörter können zur Bewältigung der Strecke hilfreich sein, wenn vor einem der Fahrer eines Wohnmobils wirklich jede sich bietende Gelegenheit, in eine der Ausweichbuchten zu fahren, ungenutzt lässt.

Hinter einem Traktor

"Als Gott die Zeit gemacht hat, hat er genug davon gemacht", lautet eine in Irland oft vernommene Redensart – Worte des Trostes, denn schließlich verbringt der durchschnittliche Ire 56 Prozent seines Lebens hinter einem Traktor oder ist damit beschäftigt, die Gülle, die dieser über seine gesamte Windschutzscheibe gespritzt hat, zu entfernen.

Die restliche Zeit rast er dann bei riskanten Überholmanövern mit Vorliebe an Touristen in nagelneuen Mietwagen vorbei, mit dem Resultat, dass die Urlauber, noch bevor sie St. John’s Point überhaupt erreicht haben, schon entschlossen sind, die Anzahl ihrer Fahrten ins Dorf auf maximal eine Tour am Tag zu begrenzen oder besser noch auf einmal in der Woche.

Der Leuchtturm St. John’s Point im Nordwesten Irlands ist beinahe 200 Jahre alt und verfügt über bescheidenen Komfort.
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Bei der Ankunft am Leuchtturm wartet bereits der alte Raymond zur Begrüßung. Dass er "born, bred and buttered in Ireland" sei, hätte er nicht sagen müssen. Man sieht es ihm an. Mit dem windschiefen Gang vieler irischer Männer, die lange zur See gefahren und sich über Kartoffeläcker und Torffelder gebeugt haben, führt er durch die Anlage.

Zwei L-förmige Gebäude bilden einen Hof und umzingeln so den 14 Meter hohen Turm – allesamt bereit, Widerstand zu leisten, wenn eine teuflisch schwarze Wolkenwand die Sonne mal wieder aus dem Verkehr zieht, wütende Winde über das Dach fegen und ein Trommelregen die Fenster vibrieren lässt.

Doch selbst an heiteren Hochsommertagen fühlt man sich von diesen dicken Mauern geschützt. Gleichzeitig stellt sich das Gefühl einer fast klösterlichen Isolation ein, und auch was den Komfort angeht, wurde nicht zu viel versprochen. Die beiden Ferienwohnungen SJ Schooner und SJ Clipper sind bestens ausgestattet, mit zwei beachtenswerten Ausnahmen: Es gibt weder Fernsehen noch Wi-Fi.

Wal- und Wetterbeobachtung

Zumindest braucht es für alles, was die Leuchtturmgäste wissen müssen, keine Suchmaschine – sie haben ja Raymond, und der zeigt, wo die Ferngläser für die Walbeobachtung aufbewahrt werden, er erklärt die Handhabung des Barometers, damit man sich in der Kunst der Wettervorhersage üben kann wie einst die Wärter dieses Leuchtturms, und er weiß selbstverständlich, wo es die besten Fish and Chips in Killybegs gibt.

Dem dortigen Fischereihafen dient der Turm am St. John’s Point bereits seit 190 Jahre als Leuchtfeuer. 1825 schlossen sich die Händler und Kaufleute von Killybegs zusammen, um den Bau eines langersehnten Leuchtturms zu fordern, der die Nordseite ihrer Bucht markieren sollte. Nach vier Jahren Genehmigungsdauer und zwei Jahren Bauzeit konnte St. John’s Point Lighthouse im Jahr 1831 endlich seinen Betrieb aufnehmen.

Neben einem vernünftigen Badezimmer gibt es sogar eine Minibibliothek, dafür aber keinen Fernseher.
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Die Männer, die hier ihren Dienst versahen, waren noch ganz nach Raymonds Geschmack – von allen Wettern geprüft, Einsamkeit und Entbehrungen gewohnt, kernige Burschen eben. "Schaut euch nur die modernen irischen Männer an. Sogar Farmer geben ihren Kühen Namen und weinen volle fünf Minuten, nachdem sie Julia Roberts zum Schlachter gebracht haben."

Auch wenn Anteilnahme nicht in das Anforderungsprofil eines Leuchtturmwärters gehört haben dürfte, hat Einfühlungsvermögen in diesem Job sicherlich nicht geschadet. Neben der Bewachung der Lampen und den routinemäßigen Reinigungs- und Wartungsarbeiten mussten sie schließlich oft die Anrufe von besorgten Ehefrauen der Fischer entgegennehmen, die sich über den Verbleib ihrer Männer auf See informieren wollten.

Jeder Turm ein Unikat

1932 wurde der Leuchtturm am St. John’s Point auf Gasbeleuchtung umgestellt und 30 Jahre später elektrifiziert und automatisiert. Seitdem verrichtet dort kein Wärter mehr seinen Dienst, landesweit aber sind noch immer 70 Off- und Onshore-Leuchttürme in Betrieb, vom legendären Fastnet Lighthouse im Süden Irlands bis zum Inselleuchtturm auf Inishtrahull vor Malin Head.

Die Aussicht, bald wieder an die irische Atlantikküste reisen und der Welt im St. John’s Point Lighthouse den Rücken kehren zu können, versetzt viele Homeofficer in Euphorie
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Jeder Leuchtturm ist auf seine einzigartige Weise beeindruckend, denn jeder ist ein Unikat, bewusst anders gestaltet, um ihn von seinen Gegenstücken entlang der Küste unterscheidbar zu machen. Unterhalten von der Organisation der Commissioners of Irish Lights spielen die Leuchttürme nicht nur eine wichtige Rolle für die Sicherheit der Seeschifffahrt, sondern gewinnen auch immer größere Bedeutung für den Tourismus.

Der Puls des Leuchtturms

Welche Anziehungskraft sie auf Irlandreisende ausüben, hat auch der Irish Landmark Trust erkannt. Der gemeinnützige Verein, gegründet mit dem Ziel, architektonisch wertvolle Gebäude zu bewahren, vermietet restaurierte Bahnwärterhäuschen, Schlösser, Stallbauten und ehemalige Leuchtturmwärterwohnungen als Ferienunterkünfte, und die vielen Würdigungen im Gästebuch von St. John’s Point zeugen vom großen Erfolg dieses Projekts.

In einem besonders schwärmerischen Eintrag vergleicht eine französische Urlauberin die Strahlen des Leuchtturms mit der ausgestreckten Hand eines Freundes, die durch die Finsternis gereicht wird – und das alle sechs Sekunden. Das ist der Puls des Leuchtturms, das Intervall, in dem sein blendend weißes Licht 14 nautische Meilen weit hinaus aufs Meer scheint, aber auch den Platz vor dem Schlafzimmerfenster blitzartig erhellt. Durch einen kleinen Spalt im Vorhang hindurch blinkt so die rhythmische Botschaft "Alles gut, ich bring auch euch sicher durch die Nacht".

Möwenwecker

Der neue Küstenmorgen am St. John’s Point beginnt dann mit hallendem Möwenwecker, mit Salz gewürzten Winden und der allerbesten Arznei gegen Weltverdruss – Atlantikwellen. Die schwappen sanft über meergrüne Felsen. Wolkenschatten spielen auf der Wasserfläche Fangen, Sturmvögel schießen wie Speere ins Meer und tauchen mit silbrig glänzenden Fischleibern in den Schnäbeln wieder auf.

Ein Tag, um mit dem Fernglas lange über die Wellen zu wandern, weil die Chancen gut stehen, dass an der Stelle, an der sich das Wasser so auffallend kräuselt, ein schwarzer Buckel samt Finne auftauchen wird – ein Zwergwal, der schon so oft in die Bucht zurückgekehrt ist, dass die Fischer ihn Bumerang getauft haben.

Carnegie-Box

Das brillant Sonnige kann an Donegals Küste aber jählings ins biblisch Sintflutartige umschlagen, wenn die berüchtigten Islandtiefs ihre mächtige Regenfracht dort als Erstes abliefern. Dann wird die Wind- und Wetterfestigkeit der Reisenden hart auf die Probe gestellt.

Brechen außerdem noch Stürme herein, denen sich auf mehreren Tausend Kilometern offener See kein Hindernis in den Weg gestellt hat, erteilt der tobende Atlantik den Leuchtturmgästen Hausarrest. Durchhalten ist dann die Devise. Wie lang die Probezeit für die eigene Wasserfestigkeit ausfällt, ist allerdings ungewiss. Gut, dass es die Carnegie-Box gibt.

Ganz anderes Leben

Die Box geht auf den Geschäftsmann Andrew Carnegie zurück – einer der reichsten Menschen des frühen 20. Jahrhunderts und ein äußerst großzügiger Philanthrop. 60 Millionen Dollar spendete Carnegie für den Bau von über 2.000 Bibliotheken in englischsprachigen Ländern. Die Leiter einiger irischer Carnegie-Bibliotheken statteten jede Leuchtturmstation mit einem eigenen Bücherschrank aus.

Vielen Leuchtturmwärtern verkürzte die Lektüre aus der Carnegie-Box so manche lange Nacht und den heutigen Feriengästen die Zeit, bis sich der Himmel sein Blau zurückgeholt hat. Dann wird St. John’s Point wieder zu dem Ort, an dem man mit seinen Träumen von einem ganz anderen Leben ankern kann. (Nicole Quint, RONDO, 26.4.2021)