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Im London des 18. Jahrhunderts war die Geruchskulisse vermutlich um einiges abwechslungsreicher als heute.

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Wie roch es in den Straßen Londons um 1750? Ein relativ neuer Forschungsbereich in den Geschichtswissenschaften beschäftigt sich mit der Frage, wie die Menschen der Vergangenheit ihre Umgebung sinnlich wahrgenommen haben.

William Tullett, Dozent für Geschichte an der britischen Anglia Ruskin University, konzentriert sich ganz auf die historische Geruchswelt. In einem eigenen Buch widmet er sich den Gerüchen Englands im 18. Jahrhundert.

STANDARD: Warum haben Sie für Ihr Buchprojekt gerade das 18. Jahrhundert ausgewählt?

William Tullett: Es war in der Geschichte der Geruchswahrnehmung ein wichtiger Zeitabschnitt – aus einer Reihe von Gründen. In ganz Europa entwickelte sich damals eine Konsumkultur, zu der etwa auch Parfumhändler gehörten. Die koloniale Expansion brachte viele neue Güter – Tabak, Tee, Kaffee oder Gewürze – und damit auch neue Gerüche nach Europa. Es ist aber auch deshalb eine interessante Zeit, weil Wissenschaft und Medizin beginnen, Gerüche neu zu betrachten. Im 16. und 17. Jahrhundert glaubte man noch, dass Gerüche Hunger stillen, Krankheiten auslösen oder dem Körper Medizin zuführen könnten. Ende des 18. Jahrhunderts wurden diese Ideen dagegen bereits stark infrage gestellt.

William Tullett erforscht historische Gerüche.
Foto: Anglia Ruskin University Cambridge

STANDARD: Können Sie eine kurze Führung durch die Geruchsumgebung einer Stadt im 18. Jahrhundert geben?

Tullett: Heute riechen dank Lüftungen, Klimaanlagen oder Sanitärprodukten verschiedene Umgebungen sehr ähnlich. Im 18. Jahrhundert hatten die meisten Orte dagegen einen sehr charakteristischen Eigengeruch. Besuchte man im damaligen London ein Kaffeehaus, würde man neben Kaffee, Tee und Tabak auch stinkende Füße, Parfums, Zeitungspapier und Talgkerzen riechen. Auch jeder Stadtteil hatte einen individuellen Geruch – etwa nach stinkendem Fisch oder Resten vom Fleischhauer. Das Stadtzentrum, wo die Straßen besser gereinigt und viel öfter Parfum gebraucht wurde, hatte ebenfalls einen eigenen, unverwechselbaren Geruch, wie in Quellen zu lesen ist. Zudem variierten die Gerüche nach Tageszeit und Saison, auch weil viele Produkte nur saisonal verfügbar waren. Die Geruchswelt war wohl abwechslungsreicher als heute.

STANDARD: War die Geruchsumgebung also auch insgesamt intensiver?

Tullett: Ich glaube nicht, dass es für die Menschen intensiver gerochen hat als heute – auch weil sich der Geruchssinn an die Umgebung anpasst. Aufzeichnungen zur Stadtreinigung verweisen erstaunlich selten auf Gerüche. Dagegen behandeln sehr viele Quellen Gerüche, die ungewöhnlich und neu waren – wie eben Tabak oder Parfums. Wir leben im Gegensatz zu damals aber in einer Zeit synthetischer Gerüche – in Essen, Parfums oder Lufterfrischern. Vieles riecht heute anders, weil die Gerüche nicht von jenen Objekten kommen, die mit dem Geruch ursprünglich assoziiert werden.

STANDARD: Haben Sie ein Beispiel für einen Geruch, der damals typisch war, heute aber sehr ungewöhnlich wäre?

Tullett: Da gibt es einiges. Rosmarin wurde etwa im 17. Jahrhundert verbrannt, um die Menschen vor der Pest zu beschützen. Heute ist er nur noch in der Küche zu finden. Es gibt Beispiele für Gerüche in Parfums, die heute nicht mehr populär sind. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts war Zibet einer der wichtigsten Gerüche der Parfumeure. Er stammt aus Drüsen am After der Zibetkatze. Die aus Afrika stammende Art wurde damals auch in England gehalten. Man nutzte einen eigenen Löffel, um den Zibet aus der Drüse zu kratzen – eine braune, schleimige Flüssigkeit, die auch vom Geruch an Fäkalien erinnert. Die Substanz verlängerte die Duftwirkung der Parfums. Bereits Satiriker im 18. Jahrhundert machten sich darüber lustig, dass das Luxusgut aus dem Hintern einer Katze stammt. Selbst im Originalrezept von Chanel Nr. 5 war Zibet noch eine der Ingredienzien.

STANDARD: Welche Quellen stehen Ihnen zur Verfügung, um herauszufinden, wie es in einer bestimmten Geschichtsepoche roch?

Tullett: Die Wissenschaft befasst sich auf breiterer Basis erst seit etwa fünfzehn Jahren mit historischen Gerüchen. Es gibt aber in sehr vielen Dokumenten Bezugnahmen auf Gerüche. Die Quellen, die ich nutze, reichen von Reinigungsprotokollen und Arzneibüchern über Zeitschriften, satirische Schriften und Zeichnungen bis zu Tagebüchern und Briefen. Einer der am häufigsten gedruckten Texte damals waren Predigten. Auch dort gibt es eine Unmenge von Hinweisen auf Gerüche.

STANDARD: Im Projekt "Odeuropa", an dem Sie beteiligt sind, sollen historische Gerüche systematisiert werden. Beispielsweise wurde der Geruch der Schlacht bei Waterloo reimaginiert. Worum geht es konkret?

Tullett: Das Ziel ist, aus den großen Mengen digitalisierter Texte und Bilder der Vergangenheit Bezüge zu Gerüchen zu identifizieren. Eine Frage ist, was die wichtigsten Gerüche in der europäischen Kultur zwischen 1600 und heute sind. Die Information soll genutzt werden, um manche der Gerüche in Museen wiederauferstehen zu lassen. Es geht aber dabei nicht einfach darum, zu sagen: So roch die Vergangenheit. Man kann niemals sagen, wie sich ein Geruch für die Menschen damals dargestellt hat. Wir können im Sinne eines kulturellen Erbes nur sagen: Das ist ein Geruch, der in der europäischen Geschichte wirklich wichtig war – welche Bedeutung hat er für uns heute? Durch das Projekt können wir nun Kontexte schaffen, die Vergleiche über die Jahrhunderte und den ganzen Kontinent hinweg ermöglichen.

STANDARD: Covid kann zu Geruchsverlust führen. Verändert sich der Bezug der Menschen zum Riechen durch die Pandemie?

Tullett: Die Corona-Krise zeigt den Menschen, wie wichtig der Geruchssinn ist – auf verschiedene Arten: Patienten, die den Geruchssinn verloren haben, entdecken, welche große Rolle er im Alltag spielt. In Lockdowns haben viele Menschen bemerkt, dass sie gewohnte Gerüche vermissen. Zudem besteht die Frage, wie wir in Zukunft mit Gerüchen umgehen. Die Idee eines Parfums basiert auf der Idee, dass Menschen einander nah sind – weil wir nur dann einander riechen können. Was passiert in einer Welt, in der wir zunehmend sozial distanziert sind? Wenn ich heute hinausgehe, rieche ich Menschen bewusster. Denn sobald man jemanden riecht, weiß man, dass man ihm nahe ist.

STANDARD: Wenn nun ein Bewohner Londons aus dem 18. Jahrhundert in die Gegenwart reisen könnte, würde er die Gerüche mögen?

Tullett: Ich glaube, er würde den Geruch des 21. Jahrhunderts genauso ekelhaft finden wie wir jenen des 18. Jahrhunderts – einfach deshalb, weil er anders ist. Eine Frage wäre, wie ein Zeitreisender auf die Luftverschmutzung großer Städte reagiert, die für den heute darin lebenden Menschen kaum wahrnehmbar ist. Es wäre interessant, ob die Verschmutzung für ihn anders riechen würde als für uns. (Alois Pumhösel, 25.4.2021)