Der Schweizer Jurist Nils Melzer überwacht für die Vereinten Nationen das Folterverbot und hat ein Buch über den Fall des Wikileaks-Gründers Julian Assange geschrieben.

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"Collateral Murder" zeigt den berüchtigten Einsatz des US-Hubschraubers Crazy Horse in Bagdad am 12. Juni 2007. Man hört den Sprechfunk: Pilot und Bordschütze verwechseln Passanten mit Kämpfern und bekommen die Erlaubnis für einen Angriff. Auch zwei Retter, die zu Hilfe eilen, und bereits außer Gefecht gesetzte Verletzte werden getötet. Zwölf Zivilisten sterben, darunter zwei Journalisten.

"Wenn der erste Offizier, der dieses Video sieht, sofort eine Untersuchung eingeleitet und die verantwortlichen Soldaten vor ein Kriegsgericht gestellt hätte, dann gäbe es den Skandal heute nicht", sagt Nils Melzer im STANDARD-Gespräch. Der Topjurist ist seit 2016 der Uno-Sonderberichterstatter für Folter. Sein Hauptanliegen: Statt der mutmaßlichen Kriegsverbrecher wird seit rund einem Jahrzehnt jener Mann systematisch kriminalisiert, der "Collateral Murder" veröffentlicht hat – Wikileaks-Gründer Julian Assange. Nicht nur das: Seit 2018 werde er auch psychisch gefoltert – dem gehöre ein Ende gesetzt und die Vorwürfe gehörten untersucht.

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Assange zeige typische Zeichen langer psychischer Folter, sagt Nils Melzer, Uno-Sonderberichterstatter für Folter.
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Behördenkollusion

Es ist keineswegs ungewöhnlich, dass Sonderberichterstatter von den Uno-Mitgliedsstaaten die Einhaltung des Völkerrechts – etwa des Folterverbots – einmahnen. Durchaus ungewöhnlich ist hingegen die Vehemenz, mit der Melzer das tut. Obwohl er weiterhin Mandatsträger ist, erscheint diese Woche sein Buch "Der Fall Julian Assange", das einzig dieser Causa gewidmet ist. Ein "Akt der Verzweiflung" und eine "Eskalation, die zeigt, dass ich auf dem Dienstweg nicht mehr weitergekommen bin", erklärt Melzer.

In dem Buch erhebt der Schweizer etliche schwerwiegende Vorwürfe: Schweden, Großbritannien, die USA und Ecuador hätten sich nicht nur geweigert, mit ihm zu kooperieren, er wirft den Behörden dieser Länder gezielte Kollusion zur "Knebelung und Zerstörung eines unbequemen politischen Dissidenten" vor. Die schwedische Justiz habe die Vorwürfe zweier Frauen zur politischen Verfolgung Assanges missbraucht. Denn auch wenn diese nicht vom Tisch zu kehren seien, so hätten Voruntersuchungen ergeben, dass die mutmaßlichen Sexualdelikte – bewusste Zerstörung eines Kondoms beim Sex und sexuelle Handlungen mit einer schlafenden Frau – nicht nachweisbar seien.

Von der Außenwelt abgeschnitten

Dennoch wurde das Verfahren zum Leid aller Beteiligten systematisch verzögert und Assange so öffentlich vorverurteilt und der Freiheit beraubt, so Melzer. Weil Schweden nicht bereit war, Assange vor einer möglichen Auslieferung in die USA zu schützen, widersetzte er sich dem Haftbefehl 2012 mit einer Flucht in Ecuadors Botschaft in London.

Ab 2018 wurde Assange dort dann komplett von der Außenwelt abgeschnitten: kein Telefon, kein Internet, kaum Besucher, die totale Überwachung. Isolation, Willkür und Demütigung wurden nach Melzers Ansicht bewusst eingesetzt, das Zusammenwirken dieser Elemente führe zum Zusammenbruch der Persönlichkeit. Laut zwei Medizinern, die Assange 2019 in einem Londoner Gefängnis untersuchten, weist er die für psychische Folter typischen Symptome auf. Obwohl die Strafe für die Flucht in die Botschaft längst abgesessen ist, sitzt Assange nun schon seit rund 740 Tagen in Isolationshaft – auch das ist nicht konform mit Uno-Regeln.

Systemversagen

Zwar "feiere" die Staatengemeinschaft jährlich das Folterverbot, aber beim Schutz der Menschenrechte "versagt" das System, folgert Melzer in dem Buch, mit dem er die Öffentlichkeit "wachrütteln" und auf die Straflosigkeit der Mächtigen hinweisen will. Grund dafür sei nicht "eine kriminelle Verschwörung", viel eher sei das eine Entwicklung des Kampfes gegen den Terrorismus nach 9/11. Bedenklich sei auch, dass die Toleranz in der Bevölkerung gegenüber Informationsaustausch zwischen Geheimdiensten, Geheimhaltung und Behördenkollusion gewachsen sei.

Die USA wollen Assanges Auslieferung nun per Berufung erwirken. Sie wurde aufgrund der dortigen drakonischen Haftbedingungen im Jänner verweigert. Wenn die USA mildernde Zugeständnisse machen, könnte der Auslieferung doch stattgegeben werden, befürchtet Melzer. Dann droht ihm eine Haftstrafe von 175 Jahren. (Flora Mory, 20.4.2021)