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Die Spannung in Jekaterinburg ist zum Greifen.

Foto: Reuters/Childs

Jekaterinburg – Fabiano Caruana macht keine halben Sachen. Was für andere Spieler gründliche Partievorbereitung ist, genügt den Ansprüchen der Nummer zwei der Weltrangliste noch lange nicht. 13 Monate coronabedingte Unterbrechung hatte der US-Amerikaner Zeit, sich gemeinsam mit seinem gefürchteten Chef-Sekundanten Rustam Kasimjanow akribisch auf die Lieblingsvarianten seiner Gegner vorzubereiten. Und was Caruana in Runde acht gegen den Halbzeit-Führenden Maxime Vachier-Lagrave vorlegt, ist mehr als beeindruckend.

Wobei der Franzose auch seinen Anteil daran hat, dass der Gegner Gelegenheit bekommt, die ungeheure Tiefe seiner eröffnungstheoretischen Arbeit am Brett zu demonstrieren: MVL, wie Vachier-Lagrave gerne genannt wird, ist nämlich der einzige Top-Spieler der Gegenwart, der seine Varianten so gut wie nie wechselt. Gegen den Aufzug des Königsbauern vertraut er seit Jahr und Tag auf die berüchtigte Najdorf-Variante des Sizilianers. Dabei handelt es sich um ein nach dem polnisch-argentinischen Großmeister und Bonvivant Miguel Najdorf benanntes Abspiel, das vielen als prinzipiellste Erwiderung auf den beliebtesten weißen Eröffnungszug gilt.

Der sture Monsieur Vachier-Lagrave

Warum Maxime Vachier-Lagrave die 13 Monate Pause nicht genutzt hat, um sich wenigstens für diese eine, enorm wichtige Schwarzpartie gegen Theoriehai Caruana eine andere Verteidigung zurechtzulegen, kann wohl nur der Franzose selbst beantworten. Zumal der jüngst auf Platz 15 der Weltrangliste abgerutschte MVL mit der Najdorf-Variante bereits im Jänner beim Traditionsturnier von Wijk aan Zee gegen denselben Gegner grausam Schiffbruch erlitten hatte.

Also kommt es, wie es kommen muss. MVL spielt stur seinen Lieblingsstiefel herunter und schickt im siebten Zug auch noch die Königin auf eine zeitraubende Fresstour am weißen Damenflügel: Die rasiermesserscharfe Bauernraubvariante – zu Englisch auch treffend Poisoned Pawn Variation genannt – und genau das Najdorf-Subsystem, in dem Caruana und sein Team sich ein Jahr lang wissenschaftlich ausgetobt haben dürften. Aus dem einen von Weiß geopferten Bauern werden erst zwei, dann drei, und MVL muss sie nehmen. Während die schwarze Dame alles abgrast, nutzt Caruana die Zeit, seine Figuren im Zentrum für einen schnellen Mordanschlag auf den schwarzen Monarchen zu sammeln.

All das war schon in anderen Großmeisterpartien zu sehen. Als der US-Amerikaner der schwarzen Dame aber im 18. Zug auch noch einen ganzen Läufer zum Fraß vorwirft, sind die ausgetretenen Pfade verlassen, und MVL versinkt in tiefes Nachdenken.

Der Franzose weiß in diesem Moment: Es gibt einen Weg aus dem Labyrinth, in das Caruana ihn gelockt hat, es muss ihn geben. Denn die Bauernraubvariante ist seit Jahrzehnten erprobt, mit den besten Computerprogrammen tausendfach durchgecheckt und gilt als feuerfest. Nur nützt dieses Wissen alleine wenig, wenn eine unbekannte Position am Brett steht, jeder Fehltritt tödlich sein kann und das Gegenüber seine Züge wie aus der Pistole schießt.

Zwischen Skylla und Charybdis

MVL aber ist Najdorf-Spieler mit Herz und Seele: Zwar ist ihm die konkrete Stellung neu, die taktischen Motive jedoch kennt er in- und auswendig. Geschickt navigiert er zwischen Skylla und Charybdis, klammert sich nicht ans Material, sondern gibt erst die Figur, dann einen Bauern zurück. So rettet der Nachziehende sich unter Damentausch in ein kompliziertes Endspiel, in dem nicht klar ist, ob Caruanas immer noch andauernde Initiative die zwei Minusbauern nur auf- oder doch überwiegt.

Fabiano Caruana weiß in diesem Moment, dass sein Gegner die gröbsten Gefahren durch ausgezeichnetes Spiel vermieden hat. Waren 13 Monate Vorbereitung also für die Katz? Keineswegs: Nicht nur hat der US-Amerikaner noch keinerlei Bedenkzeit verbraucht, während sie seinem Gegenüber schon langsam knapp wird. Auch das entstandene Endspiel hat der unermüdliche Schacharbeiter in der heimischen Theoriegiftküche bestimmt schon vor sich gehabt. Also stellt er weiter lästige Fragen, hält die Partie am Laufen und bietet MVL damit Gelegenheit, sich die eine oder andere Ungenauigkeit zu leisten.

Im Bestreben, die weiße Dauerinitiative endlich im Keim zu ersticken, opfert Schwarz nun seinerseits Material, tauscht dafür aber fast alle Bauern ab. Und so steht zum Schluss eine Stellung am Brett, in der Caruana zwar über eine Mehrqualität (Turm gegen Springer) verfügt. Da aber Schwarz wie Weiß nur je ein Bauer auf benachbarten Linien verblieben ist, erscheint ein Friedensschluss zunächst auch den kiebitzenden Großmeistern als wahrscheinlichstes Resultat.

Schlag nach bei Juri Awerbach: Der sowjetische Übervater der Endspieltheorie und älteste noch lebende Schachgroßmeister (* 1922) hat natürlich auch Schlussspiele mit diesem Materialverhältnis schon vor vielen Jahrzehnten analysiert, dabei aber kein Pauschalurteil darüber gefällt, wann sie gewonnen und wann remis sind. Ja, selbst mit nur noch sechs Steinen am Brett ist Schach für den Menschen eben ein (zu) schwieriges Spiel. Es lässt sich, bei aller Vorbereitung, nur praktisch meistern – und Caruana tut das an diesem Tag um eine Nuance besser als sein Kontrahent. Als MVLs Springer kurz die optimale Route verpasst, dringt der Yankee-König siegbringend in die schwarze Festung ein und holt für seinen Strippenzieher den vollen Punkt.

Holländischer Matador

In Runde neun ist es dann Anish Giri, der allen anderen die Show stiehlt. Während sich Caruana gegen Alexejenko und Ding gegen den wackelnden Vachier-Lagrave letztlich erfolglos um einen ganzen Zähler bemühen, packt der oft als Chancentod verschriene Niederländer gegen Chinas Wang Hao die ganz feine Klinge aus. In einer katalanischen Lehrbuchpartie optimiert Giri ausgangs der Eröffnung Zug um Zug fast unmerklich die Stellung seiner Figuren, ohne je konkrete Drohungen aufzustellen. Spätestens, als Wang Haos schwarze Dame sich aber im Schmollwinkel auf a8 wiederfindet, wird der Triumph der weißen Strategie augenscheinlich.

Wie ein Stierkämpfer tritt Giri in der Folge einfach ruhig und elegant zur Seite, wenn sein Gegner etwas angreifen oder einen entlastenden Abtausch initiieren will. Am Ende drückt der Anziehende mit seiner ganzen verbliebenen Streitmacht auf den schwarzen Schwachpunkt f7, was dem Chinesen sichtlich Schmerzen bereitet. Wang Hao kann sich nur noch kopfschüttelnd der Niederlage entgegengranteln und streckt nach 39 Zügen die Waffen.

Vier Kandidaten

Nach einem Schwarzremis gegen Sascha Grischtschuk sieht sich der Führende, Jan Nepomnjaschtschi, somit von drei Hauptverfolgern gejagt: Caruana, Vachier-Lagrave und Giri notieren mit 5 aus 9 nur einen halben Zähler hinter dem Russen, der 5,5 Punkte am Konto hat. Während die Chancen dieser vier noch intakt sind, müssen sich die vier Spieler der unteren Tabellenhälfte wohl bereits vom Gedanken an ein WM-Match gegen Magnus Carlsen verabschieden.

Die zehnte von 14 zu spielenden Runden startet Mittwoch um 13 Uhr mitteleuropäischer Zeit. (Anatol Vitouch, 22.4.2021)

Video-Analyse von Schach-Großmeister Markus Ragger.
Österreichischer Schachbund