Mit der Okkupation der osmanischen Provinzen Bosnien und Herzegowina durch die Habsburger-Monarchie im Jahr 1878 kam erstmals ein Gebiet mit muslimischer Bevölkerung unter österreichisch-ungarische Herrschaft. Muslime stellten über ein Drittel der bosnisch-herzegowinischen Bevölkerung. Folglich übernahm die neuerrichtete habsburgische Verwaltung islamische Institutionen wie Moscheen, religiöse Stiftungen und das Schulwesen. So integrierte sie auch die hiesigen Schariagerichte in den neuen Verwaltungsapparat.

Diese Gerichte sprachen nach islamischen Vorschriften Recht und waren für die Regelung von Ehe-, Familien- und Erbangelegenheiten der muslimischen Bevölkerung zuständig. Allerdings führte die Inkorporierung der Schariagerichte, die nun unter der Kontrolle der habsburgischen Behörden standen, immer wieder zu rechtlichen und kulturellen Missverständnissen und Unklarheiten – auch im Hinblick auf lokale Ehe- und Heiratspraktiken. Davon zeugen mehrere Fälle, die sich über die Archivakten der Schariagerichte rekonstruieren lassen.

Intervention gegen vermeintliche Zwangsehen

Gut ein Jahr nach der habsburgischen Okkupation wandte sich im Juli 1879 der Bezirksvorsteher Miškov aus dem ostbosnischen Vlasenica mit einem Beschwerdebrief an die Landesregierung in Sarajevo – die höchste Verwaltungsinstanz in Bosnien-Herzegowina. Darin beklagte sich der Beamte über mehrere angebliche Zwangsehen in seinem Bezirk. Er gab an, dass Mädchen oftmals von ihrem Bräutigam gegen ihren Willen – und manchmal sogar mit Gewalt – aus ihrem Elternhaus entführt würden. Um dem entgegenzuwirken, schlug Miškov der Landesregierung vor, eine neue Registrierungspflicht für Eheschließungen einzuführen. In der Folge stellte sich jedoch bald heraus, dass Miškovs Einschätzung seinen mangelnden Kenntnissen der lokalen Heiratsbräuche geschuldet war.

Sein Brief wurde nämlich an das in Sarajevo stationierte Schariaobergericht weitergeleitet, das von der habsburgischen Verwaltung als Berufungsinstanz für die lokalen Schariagerichte errichtet worden war. Dieses erklärte daraufhin, dass Brautraub ein weitverbreiteter Brauch sowohl unter der muslimischen als auch der katholischen und orthodoxen Bevölkerung sei und in der Regel mit der Zustimmung des angebeteten Mädchens durchgeführt werde. Oftmals würde dieser Brauch dazu dienen, teure Brautgeschenke zu vermeiden. Aufgrund dieser Klarstellung wurde die vom Bezirksvorsteher Miškov vorgeschlagene Eheregistrierungspflicht letztlich auch nicht umgesetzt.

Auch zeitgenössische Ethnografen beschrieben Mädchenraub häufig als Bestandteil der lokalen Heiratsbräuche, wobei dieser in der Regel mit der Zustimmung des entführten Mädchens geschehe. Dabei wurde ebenso angemerkt, dass junge Leute in den meisten Fällen ihre Ehepartner selber aussuchten, was auch mit der Tradition des sogenannten "ašikovanje" ("Flirten") in Verbindung gebracht wurde. Voreheliche Kontakte und das Liebeswerben zwischen jungen Leuten beider Geschlechts waren nämlich zumeist sozial akzeptiert. Gleichzeitig kann allerdings davon ausgegangen werden, dass in reichen und alten Adelsfamilien voreheliche Kontakte zwischen jungen Brautpartnern eher vermieden wurden und daher in diesen Schichten arrangierte Ehen verbreitet waren. Doch gerade hier konnte laut zeitgenössischen Darstellungen der Mädchenraub einen Ausweg bieten, um die elterliche Autorität zu umgehen. Eine einvernehmlich geplante und oft heimlich in der Nacht durchgeführte "Entführung" der Braut aus dem Elternhaus wurde in der ethnografischen Literatur häufig als Mittel dargestellt, um eine selbstbestimmte Heirat zu erlangen.

Eine im sogenannten Kronprinzenwerk erschienene Illustration des "Liebeswerbens" unter bosnischen Muslimen von Ivana Kobilca.
Foto: ÖNB Bildarchiv

Mädchenraub – ein Mittel zur selbstbestimmten Heirat?

Die Archivakten des Schariaobergerichts in Sarajevo, welches in seiner Funktion als Berufungsinstanz zumeist komplizierte und nicht alltägliche Fälle behandelte, weisen darauf hin, dass Brautraub eher unter wohlhabenden Adelsfamilien verbreitet war und oftmals dazu verwendet wurde, eine Ehe gegen den Willen der Eltern zu schließen. Diese Heiratsversuche waren beileibe nicht immer erfolgreich.

So auch im Fall von Osman Drljević, der als Steuerbeamter in der herzegowinischen Stadt Stolac tätig war. Kurz nachdem er im Februar 1896 seine Geliebte, die 17-jährige Adila Mehmedbašić, entführt hatte, wurde diese in ihrem Versteck vom Vater und Bruder aufgespürt und angeblich mit Gewalt nach Hause zurückgebracht. Osman suchte darauf beim lokalen Schariagericht um eine offizielle Eheschließung mit Adila an. Da dieses jedoch nicht reagierte, wandte sich Osman an das Schariaobergericht in Sarajevo. In seiner Klage gab er an, dass Adila ihrer Entführung zugestimmt habe und dass sie bereits nach Schariarecht geheiratet hätten. Auf Intervention des Schariaobergerichts führte nun das lokale Schariagericht in Stolac doch eine Gerichtsverhandlung durch und urteilte, dass keine rechtsgültige Ehe zwischen Osman und Adila vorliege.

Darüber hinaus wurde im Urteil angegeben, dass Adila zu Protokoll gegeben habe, dass sie Osman gar nicht heiraten wolle und dies ihm auch nie versprochen habe. Diese Angabe schien allerdings das Schariaobergericht zu verunsichern, zumal die vorherigen Akten darauf verwiesen, dass Adila freiwillig mit Osman mitgegangen war. Daher wurde das lokale Schariagericht aufgefordert, weitere Zeugen zum Sachverhalt zu befragen. Am Ende bestätigte das Schariaobergericht dennoch das erstinstanzliche Urteil, wonach keine rechtsgültige Ehe zwischen Osman und Adila vorlag. Dies basierte vor allem darauf, dass Adila selber vor Gericht ausgesagt hatte, dass sie Osman nicht heiraten wolle.

Dieser Gerichtsfall zeigt exemplarisch, dass in Gerichtsverfahren die Freiwilligkeit einer Eheschließung genau überprüft wurde und daher auch die Zustimmung der Braut entscheidend war. Gleichzeitig wird darauf hingewiesen, dass es schwierig sein konnte, das Einverständnis offiziell festzustellen. Denn es kam häufig vor, dass eine junge Braut ihre ursprüngliche Zustimmung zur Ehe zurücknahm, weil sie dem Druck ihrer Eltern vor Gericht nicht standhalten konnte. Während hier also soziale Normen in Gerichtsprozessen durchaus eine Rolle spielten, schränkten in anderen Fällen ebenso islamische Rechtsvorschriften die individuelle Handlungsmacht von jungen Brautleuten ein.

Zeitgenössische Darstellung einer muslimischen Ehezeremonie von Ivana Kobilca aus dem sogenannten Kronprinzenwerk.
Foto:ÖNB Bildarchiv

Gerichtliche Eingriffe und individuelle Handlungsmacht

Um eine rechtsgültige Ehe nach Schariarecht zu schließen, musste das Brautpaar nicht nur der Ehe zustimmen. Kinder unter 15 Jahren mussten etwa die Erlaubnis ihres Rechtsvertreters – des sogenannten veli – erhalten sowie physisch und geistig reif genug sein, um ihre Heiratsfähigkeit zu erlangen. Zudem mussten die Ehepartner einander hinsichtlich ihres sozialen, finanziellen und religiösen Status ebenbürtig sein. Dieses sogenannte kufv-Prinzip wurde in den höheren sozialen Schichten und adligen Familien besonders strikt befolgt. Diese rechtlichen Vorschriften stellten oftmals weitere Hürden dar, wenn ein junges Paar gegen den Willen der Eltern heiraten wollte. Denn auf Grundlage dieser Rechtsvorschriften konnte ein Rechtsvertreter bei einem Schariagericht gegen die Eheschließung klagen.

Dies passierte, nachdem Šećera Ajanović am Abend des 6. April 1912 von ihrem Elternhaus in Tešanj zu ihrem Geliebten Husein Smajlović nach Brčko weggelaufen war. Das Paar hatte bereits einige Tage später eine Heiratsbewilligung vom lokalen Schariagericht erhalten und geheiratet. Bald darauf erfuhr allerdings Šećeras Vater Hasan-beg Ajanović von der heimlichen Heirat seiner Tochter und schickte am 12. April 1912 ein Telegramm an das Schariaobergericht. Darin gab er an, dass seine minderjährige Tochter betrogen worden sei und daher die Ehe annulliert werden müsse. Das Schariaobergericht ordnete daher an, dass das lokale Schariagericht in Brčko diese Angelegenheit untersuchen und überprüfen müsse, ob Šećera in einem heiratsfähigen Alter war. Das Schariagericht in Brčko lud nun lokale Sachkundige sowie die Braut selber vor und befragte sie zu Šećeras Heiratsfähigkeit.

Šećera wurde dabei für reif und physisch genug entwickelt befunden. Zudem sagte sie selber aus, dass es ihr eigener Wunsch sei, Husein Smajlović zu heiraten. Daher urteilte das Schariagericht, dass die Ehe zwischen Šećera und Husein rechtskräftig sei. Gegen dieses Urteil legte nun der Vater Hasan-beg beim Schariaobergericht Einspruch ein. Zur Bekräftigung seines Arguments schickte er auch eine Geburtsurkunde mit, die bezeugte, dass seine Tochter lediglich 13 Jahre alt war. Darüber hinaus behauptete Hasan-beg, dass seine Tochter nur eine adlige Person heiraten könne, zumal er einem alten Adelsgeschlecht entstamme. Damit bezog er sich auf das vorhin erwähnte kufv-Prinzip, wonach die beiden Ehepartner einander ebenbürtig sein müssten. Das Schariaobergericht akzeptierte diesen Einspruch und beauftragte das Schariagericht in Brčko, ein einwandfreies Verfahren zur Feststellung von Šećeras Alter und Heiratsfähigkeit durchzuführen. Denn nach Ansicht des Schariaobergerichts waren beim vorherigen Verfahren nicht alle Prozessvorschriften eingehalten worden. Die Archivakten enthalten allerdings keine Angaben zum finalen Urteil.

Akzeptanz lokaler Heiratspraktiken

Dennoch liefert dieser Gerichtsfall interessante Informationen zu Heiratspraktiken und deren Regelung an Schariagerichten. So wird einerseits ersichtlich, dass junge Brautleute durchaus selbstbestimmte Ehen schlossen. Andererseits boten islamische Rechtsvorschriften den weiteren Familienangehörigen die Möglichkeit, gegen unerwünschte Eheschließungen gerichtlich einzugreifen. Die durch die habsburgische Verwaltung initiierte Errichtung eines Schariaobergerichts begünstigte zudem solche Eingriffe, da Familienangehörige bei dieser formellen Berufungsinstanz Beschwerden gegen Eheschließungen einreichen konnten. Somit konnten Eheschließungen leichter annulliert oder zumindest verzögert werden, was wiederum die individuelle Handlungsmacht der jungen Brautleute einschränkte.

Die Archivakten zeigen hierbei, dass zwar von dieser Einspruchsmöglichkeit durchaus Gebrauch gemacht wurde, sich die Interventionen des Schariaobergerichts aber hauptsächlich auf die Überprüfung der Verfahrensvorschriften beschränkten. Lokale Heiratspraktiken wurden folglich von der habsburgischen Verwaltung, jedenfalls in den ersten Jahren der Okkupation, vielleicht nicht immer verstanden, allerdings durchaus akzeptiert. Dies entsprach auch dem von den habsburgischen Behörden beibehaltenen Prinzip, wonach die Regelung von Ehe- und Familienangelegenheiten ein den religiösen Institutionen vorbehaltener Rechtsbereich war. (Ninja Bumann, 30.4.2021)