Wir werden zunehmend gereizter, fühlen uns überfordert, schlafen schlecht und haben Ängste: Das ist das ernüchternde Ergebnis nach einem Jahr Pandemie.

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Aus virologischer Sicht mag der Rückzug in die eigenen vier Wände berechtigt sein. Aus psychosozialer Sicht können die Folgen langfristig verheerend sein. Nach einem Jahr Pandemie fühlt sich jeder zweite Jugendliche belastet. Jeder fünfte Österreicher hat immer noch Angst, das Haus zu verlassen. Schlafprobleme, Ängste und depressive Verstimmungen nehmen konstant zu.

Diese Bestandsaufnahme zur seelischen Gesundheit der Österreicherinnen und Österreicher zeigt deutlich, wie vielfältig die Folgen der Covid-Krise sein können. Doch wie lässt sich den Belastungen entgegenwirken? Welche Faktoren haben sich im letzten Jahr intensiviert oder sogar chronifiziert? Erhoben hat dies nun das Institut für Sozialästhetik und psychische Gesundheit der Sigmund-Freud-Privatuniversität im Zuge einer repräsentativen Onlineerhebung mit 1.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern durch das Gallup-Institut.

Nerven liegen blank

"Wir Menschen sind prinzipiell sehr gut geeignet, mit Stress und Belastungen umzugehen, sofern sie nur von kurzer Dauer sind", erklärt Michael Musalek, Vorstand des Instituts am Mittwoch bei einem Pressegespräch. Seit Beginn der Pandemie sind mittlerweile mehr als zwölf Monate vergangen, weshalb sich Corona-bedingte Belastungen inzwischen nicht nur chronifiziert, sondern auch weiter zugenommen haben, sagt Musalek.

Betroffen sind vor allem Frauen, jüngere Menschen und Personen, die schon zuvor psychisch stark belastet waren. Bei Frauen ist der Anstieg sogar um ein Fünffaches höher als bei Männern – das sei vor allem der Mehrfachbelastung durch Familie, Distance-Learning und den Beruf geschuldet. Musaleks Einschätzung nach sei Österreich damit in einer, wie er sagt, "prekären Situation".

Unruhezustände, depressive Symptome, Ängste und Schlafprobleme sind seit der ersten Erhebung vor zehn Monaten weiter angestiegen. Ferner fand man nun auch Hinweise auf die Ausbildung von Beziehungsstörungen. Rund die Hälfte der Befragten zeigt Anzeichen von Überlastung, etwa in Form von gesteigerter Gereiztheit. Bei knapp einem Drittel ist diese Gereiztheit mittlerweile sogar chronisch.

Wenn Solidarität nachlässt

Auf zwischenmenschliche Begegnungen hat dies einen zunehmend negativen Einfluss. Es entsteht dadurch eine Atmosphäre, in der ein Miteinander kaum mehr möglich scheint. Solidarität, wechselseitige Unterstützung und ein Gefühl von sozialer Geborgenheit sind jedoch zum Erhalt psychischer Gesundheit von zentraler Bedeutung, sagen die Experten.

"Die Pandemie wirkt wie ein Verstärker, es kommt zur Segregation, die Unterschiede in der Bevölkerung werden immer größer", sagt Oliver Scheibenbogen, stellvertretender Vorstand des Instituts für Sozialästhetik und Psychische Gesundheit. Besonders in der Altersgruppe der 18- bis 30-Jährigen steige die psychische Belastung sehr stark an.

"Folgt man einem linearen Anstieg, so sind das pro Monat 1,5-Prozent-Punkte oder in zehn Monaten ein Plus von 15 Prozent – wobei bereits heute jeder zweite Jugendliche eine psychische Belastung angibt", so Scheibenbogen. Maßgebliche Faktoren sind dabei fehlende Tagesstrukturen sowie die Unsicherheit bezüglich des Arbeitsplatzes, so der Psychologe.

Prinzip Hoffnung

Insgesamt erleben viele einen Verlust der Selbstbestimmung und der Autonomie. Drei Viertel der Bevölkerung haben das Gefühl, nur mehr ein eingeschränkt selbstbestimmtes Leben führen zu können. "Gerade auf die Einschränkung unserer Freiheitsgrade reagieren wir Menschen sehr sensitiv", sagt Scheibenbogen. "Das heißt aber nicht, dass wir keine notwendigen Maßnahmen zur Eindämmung mehr setzen dürfen und sollten", heißt es weiter.

Um die Befindlichkeit zu verbessern, sei es notwendig, bei der Setzung von Maßnahmen auf die Verhältnismäßigkeit zu achten. Es brauche hier auch Modelle, die einen sinnvollen Umgang mit der Pandemie vorleben, so Scheibenbogen. Die Experten plädieren dafür, "Hoffnung zu induzieren", aber keine Öffnungsdaten oder Ähnliches in Aussicht zu stellen, die möglicherweise ohnehin nicht eingehalten werden können. Denn: "So verlieren wir die Menschen", sagt Musalek.

"Soweit es irgendwie möglich ist, sollte die Bevölkerung in Entscheidungsprozesse einbezogen, Erwartungen aber nicht geschürt werden", lautet die Empfehlung der Experten. "Selbstgesetzte Restriktionen wirken sich auf die Psyche der Menschen weitaus weniger stark negativ aus, als wenn diese fremdbestimmt erfolgen." (Julia Palmai, 22.4.2021)