Zuerst wurde der Grauwal am vergangenen Freitag vor Ponza gesichtet, einer bei wohlhabenden Römern beliebten Ferieninsel vor der tyrrhenischen Küste, etwa 100 Kilometer südlich der italienischen Hauptstadt. Dann schwamm er nach Sorrent im Golf von Neapel, um dann am Dienstag wieder einige Dutzend Kilometer weiter nördlich vor der US-Marinebasis von Gaeta aufzutauchen.

Vor der Küste der mexikanischen Region Baja California (Bild) sind Grauwale keine Seltenheit. Im Mittelmeer hingegen eine Sensation.
Foto: Guillermo Arias / AFP

Der Wal ist nicht menschenscheu: Eine Taucherin konnte ihn minutenlang streicheln. In den Medien wird er inzwischen Wally genannt; dank zahlreichen Amateurvideos ist er in Italien zu einem Star der sozialen Netzwerke geworden.

Die Begeisterung für Wally ist nicht zuletzt deshalb so groß, weil er (oder sie: das Geschlecht des Tieres konnte noch nicht bestimmt werden) das erste Exemplar der Spezies Eschrichtius robustus seit Jahrhunderten ist, das sich vor die Küste des Belpaese verirrt hat.

Walfänger hatten die Grauwale im Mittelmeer und im Atlantik schon vor 300 Jahren vollständig ausgerottet; die Art kommt eigentlich nur noch im Pazifik vor. In den warmen Gewässern vor den Küsten Mexikos und Kaliforniens bringen die Muttertiere ihre Kälber zur Welt; den Rest des Jahres verbringen sie im nährstoffreichen Golf von Alaska und fressen sich dort eine dicke Speckschicht an – um dann wieder gestärkt in ihre Kinderstube im Süden zurückzukehren.

Seltene Sichtungen

Es ist zwar im letzten Jahrzehnt schon zweimal vorgekommen, dass Grauwale im Atlantik gesichtet wurden: 2013 vor Namibia und 2010 auch im Mittelmeer, vor der Küste Israels. Das Abschmelzen der Polkappen hat in der Arktis nicht nur den Weg für Schiffe, sondern auch für die großen Meeressäuger freigemacht: Wally könnte – wie die beiden oben erwähnten Artgenossen – von Alaska über tausende von Kilometern nach Grönland und Island und dann zur Straße von Gibraltar geschwommen und von dort ins Mittelmeer und an die Westküste Italiens gelangt sein.

Dennoch gibt Wally den Forschern Rätsel auf. Denn bei dem seltenen Gast handelt es sich um ein Jungtier: Aufgrund seiner Länge von sieben bis acht Metern schätzen Wal-Experten sein Alter auf höchstens sechs bis sieben Monate. Ausgewachsene Grauwale werden doppelt so groß und erreichen ein Gewicht von 35 Tonnen.

"Angesichts seines Alters halte ich es für unwahrscheinlich, dass Wally die etwa 20.000 Kilometer lange Strecke von Mexiko über die Arktis bis nach Italien zurückgelegt hat – dafür fehlte ihm schlicht die notwendige Zeit", betont Maddalena Jahoda vom Forschungs- und Schutzinstitut für Meeressäuger Thetis in Mailand.

Laut der Meeresbiologin gibt es für das Erscheinen des Jungtiers an der tyrrhenischen Küsten nur eine logische Erklärung: "Wally muss schon im Atlantik geboren worden sein." Das würde bedeuten, dass sich in den letzten Jahren dank der neuen eisfreien Route von Alaska nach Grönland neben der pazifischen auch wieder eine atlantische Population von Grauwalen entwickelt hat.

Getrübte Freude über "Comeback"

Für die Walforscher und Tierschützer der ganzen Welt wäre dies eine sensationelle, eine wunderbare Nachricht – aber wissenschaftlich erhärtet ist die stabile Rückkehr der Grauwale in den Atlantik noch nicht.

Die Freude in Italien über den Besuch Wallys ist freilich getrübt durch die Sorge über dessen Schicksal. Auf seiner langen und wahrscheinlich einsamen Reise durch den offenen Ozean ist der Jungwal völlig abgemagert: Unter seiner Haut zeichnet sich die Wirbelsäule ab. Ob er vor der Küste Italiens genügend Nahrung finden und überleben wird, ist ungewiss. Die Forscherin Jahoda und die italienische Küstenwache haben deshalb an Fischer und Wassersportler appelliert, das ausgezehrte Tier in Ruhe und seinen eigenen, rätselhaften Weg gehen zu lassen. (Dominik Straub aus Rom, 22.4.2021)