Die glorifizierte "Mitte" ist eine konservative Wortkeule gegen tatsächliche oder vermutete Minderheiten, sagt Heinrich Breidenbach, Autor und Unternehmer, im Gastkommentar.

Tritt als "Mann der Mitte" an: der Unionskanzlerkandidat Armin Laschet.
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Der Ruf ist alt und die Empfehlungen braver Politikberater und Leitartikler sind einhellig. Parteien müssten in die "Mitte" rücken. Nur in der "Mitte" könnten Wahlen gewonnen werden. Die "Mitte" verkörpere nämlich Stabilität und Ausgleich. Die "Mitte" gilt als eine "vernünftige" und "gemäßigte" Mehrheit zwischen gesellschaftlichen Extremen. Mit dem kuscheligen Begriff der "Mitte" wird gleichzeitig alles, was nicht dazu gezählt wird, als "Rand" denunziert. Tatsächlich gibt es in allen Gesellschaften eine Mehrheit, die normal leben und arbeiten will. Dies in Sicherheit und in einem berechenbaren Staat.

Missbrauchter Begriff

Mit etwas historischem oder geografischem Abstand betrachtet, wird die Brüchigkeit dieses Begriffs und sein Missbrauch aber leicht erkennbar. Diese "Mitte" genannte Mehrheit unterstützt in Russland den autoritär herrschenden Präsidenten Wladimir Putin, in der Türkei den immer despotischer, nationalistischer und islamistischer werdenden Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, in China die Alleinherrschaft der kommunistischen Partei und in Saudi-Arabien die Steinigung von Ehebrechern und die Todesstrafe für Menschen, die vom Islam "abfallen". Wer wäre denn die "Mitte" in Saudi-Arabien?

Die "Mitte" genannte Mehrheit war bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs überall in Europa von einer radikalen Kriegsbegeisterung erfasst. Beklemmend beschreibt etwa Stefan Zweig diese Raserei der "Mitte" in seiner "Welt von gestern". Die "Mitte" ist in Israel dafür, dass den Palästinensern immer mehr Land weggenommen und ewige Feindschaft prolongiert wird. Die "Mitte" war fast überall auf der Welt dafür, dass Homosexuelle eingesperrt werden, dass Kinder und Frauen "gezüchtigt" werden dürfen und dass Vergewaltigung in der Ehe kein strafbares Delikt sein soll. Die "Mitte" fand nichts Anstößiges daran, dass europäische Mächte sich aufmachten, angeblichen "Primitiven" auf der südlichen Hälfte der Welt ihr Leben, ihre Kultur, ihre Reichtümer, ihr Land und ihre Freiheit zu nehmen. Die "Mitte" fand Sklaverei ganz normal.

Radikale Mitte

Als im Iran des Jahres 1953 der gewählte Ministerpräsident Mohammed Mossadegh vom US-amerikanischen und britischen Geheimdienst gestürzt wurde und die Diktatur der Pahlavis errichtet wurde, fand das damals die "Mitte" in den USA und in ganz Europa in Ordnung, wenn sie überhaupt Notiz davon nahm. Heute weiß zumindest eine Minderheit, dass das ein großer Schritt in jenen Abgrund war, der bis heute den ganzen Nahen Osten und mit ihm die Welt peinigt. Aber die Geschichte lässt sich nicht rückabwickeln, die "Mitte" und ihre Medien bereuen nichts.

Ist heute alles anders und gar besser? In entwickelten Demokratien trifft es gelegentlich zu, dass die Bevölkerungsmehrheit in einzelnen Fragen auch so etwas wie eine gemäßigte, politisch vernünftige "Mitte" darstellt. Aber künftige Generationen werden diese derzeitige "Mitte" mit hoher Wahrscheinlichkeit dafür verfluchen, alle Warnungen vor einer ökologischen Überforderung dieses Planeten aus Egoismus und Bequemlichkeit in den Wind geschlagen zu haben. Die "Mitte" toleriert, dass das Notwendige nicht getan wird. Sie verlangt es von den politischen und ökonomischen Eliten nicht. Sie macht mit. Sie unterstützt damit eine sehr radikale Politik mit radikalen Folgen, die aber als gemäßigt auftritt.

"'Die Mitte' irrt und irrt sich durch die Geschichte."

US-Präsident Lyndon B. Johnson, ein Politiker der "Mitte", ließ im Jahr 1964 den angeblichen "Zwischenfall im Golf von Tonkin" erfinden, um die USA endgültig in den Vietnamkrieg hineinzuziehen. Die "Mitte" der Bevölkerung unterstützte Johnson bei diesem herbeigelogenen Krieg. Letztlich kostete er rund drei Millionen Menschen das Leben, vor allem aus der vietnamesischen Zivilbevölkerung. Die angeblich radikalen "Ränder" der Gesellschaft protestierten damals gegen diesen Krieg. Im Kern also war die "Mitte" radikal, die angeblich radikalen Ränder stellen sich historisch als die viel Gemäßigteren dar.

Die vermuteten oder behaupteten Mehrheiten, die "die Mitte" genannt werden, erweisen sich in unterschiedlichen historischen und gesellschaftlichen Kontexten als grausam, verführbar, gefährlich und radikal. "Die Mitte" irrt und irrt sich durch die Geschichte.

Legitimation, nicht Wahrheit

In den parlamentarischen Demokratien wird der Mehrheit gerne Wahrheit zugeschrieben. "Die Mehrheit hat immer recht", heißt es nach Wahlen. Das ist falsch. Regierungen, die sich auf Mehrheiten in den Parlamenten stützen können oder von Mehrheiten toleriert werden, sind legitim. Nicht mehr! Die Mehrheit verleiht einer Regierung Legitimation, muss aber inhaltlich deshalb nicht recht haben. Im Gegenteil, sie kann schrecklich irren und tut das auch.

Bei Lichte besehen, bleibt von der glorifizierten "Mitte" wenig. Der Begriff ist untauglich dafür, denjenigen eine vernünftige, ausgleichende Politik zu bescheinigen, die ihn im Munde führen. Tauglich ist er zur Propaganda, als konservative Wortkeule gegen tatsächliche oder vermutete Minderheiten. Sie sollen damit an den "Rand" gestellt werden. Dorthin, wo die Mehrheiten nicht sein wollen. (Heinrich Breidenbach, 22.4.2021)