Der U-Ausschuss will Kanzler Kurz' Smartphone; die Geräte zahlreicher Spitzenpolitiker hat die Justiz bereits sichergestellt – der ehemalige OGH-Präsident Eckart Ratz (links als kurzzeitiger Innenminister) warnt vor einer fehlenden Balance zu Persönlichkeitsrechten.

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Stellen Sie sich vor, Ermittler haben hunderttausende Chatnachrichten, die Sie in den vergangenen Jahren geschrieben haben – und die Sie selbst nicht mehr abrufen können. Stellen Sie sich weiter vor, diese Whatsapp-Nachrichten werden zum nationalen Politikum und gelangen in die Hände von U-Ausschuss und Medien – und teilweise können Sie selbst nicht einsehen, welche Nachrichten die Justiz an den U-Ausschuss übermittelt hat. So geht es momentan Öbag-Chef Thomas Schmid, aus dessen Smartphone sogenannte "Rohdaten" an den U-Ausschuss gelangt sind.

Oder stellen Sie sich vor, Sie haben mit einer prominenten Person gechattet, mit der Sie verwandt sind oder deren Kollege oder Kollegin Sie sind. Diese Person wird nun beschuldigt, ihr Handy wurde sichergestellt. Plötzlich liegen Nachrichten von Ihnen bei Polizei, Staatsanwaltschaft, U-Ausschuss und Medien auf – und Sie haben keine Möglichkeit zu sehen, welche Nachrichten von Ihnen kursieren. So ginge es Ihnen als Zeuge.

Derartige Fallkonstellationen bringt die Kombination aus politisch brisanten Chats in Ermittlungen mit einem dazu laufenden U-Ausschuss. Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat die Problematik verschärft: Er stellte klar, dass die Justiz auch strafrechtlich nicht relevante Inhalte abseits des Strafaktes an den U-Ausschuss liefern muss, wenn diese einen Bezug zu den Inhalten des politischen Untersuchungsgremiums haben. Eine Entscheidung, die der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) und dem Justizministerium keine Freude machte.

Das riesige Volumen an Chats

Die grundlegende Schwierigkeit besteht darin, dass unter anderem die Strafprozessordnung (StPO) bislang nicht für die Ära der Smartphone-Kommunikation adaptiert worden ist. Sie beschäftigt sich mit der Sicherstellung von "Gegenständen"; gemeinhin in Richtung Tatwaffe gedacht, womöglich noch anwendbar auf einen USB-Stick mit Firmendaten, wo der Umfang der gespeicherten Daten im Wesentlichen überschaubar ist. Nun ist juristisch aber auch das Smartphone bloß ein solcher "Gegenstand" – der aber, wie die Strafrechtlerin Ingeborg Zerbes sagt, als eine Art "Logbuch" fast das gesamte Leben seines Inhabers abbildet. Der weiß mitunter gar nicht, welche Daten auf dem Smartphone gespeichert sind. Für dessen Sicherstellung reicht schon ein "einfacher Verdacht" aus. Eine höhere Schwelle hat hingegen die "Live"-Überwachung von Telefonaten, also das klassische Abhören. Für gespeicherte Nachrichten – im Fall von Schmid rund 330.000 Stück – gibt es keine speziellen Vorschriften.

Die Strafrechtsprofessorin Susanne Reindl-Krauskopf sagt im STANDARD-Gespräch, man müsse überlegen, ob die Schwelle für den Zugriff auf solche Nachrichten deren Inhalt "Rechnung trägt", da man sich bei Chats "wertungsmäßig immer näher an die Echtzeit-Kommunikation bewegt". Auch Zerbes denkt, man müsse sich beim Umgang mit Chats stärker an der Telekomüberwachung orientieren und den Zugriff der Strafverfolgungsbehörden an eine richterliche Bewilligung und einen dringlichen Tatverdacht binden.

Wer darf was wann löschen?

Oft erfolgt die Sicherstellung elektronischer Geräte jedoch schon jetzt in Kombination mit einer Hausdurchsuchung. Das passierte in der Causa Casinos zum Beispiel beim einstigen Vizekanzler Heinz-Christian Strache (früher FPÖ), bei Finanzminister Gernot Blümel (ÖVP) oder eben bei Öbag-Chef Thomas Schmid. Schon bei der Abnahme des Smartphones erlauben manche Staatsanwälte den Beschuldigten, bestimmte Chats oder Fotos unter Aufsicht zu löschen: etwa Kommunikation mit deren Anwälten.

Dann gelangen das Smartphone, der Laptop oder die Festplatte mit Back-up zu den IT-Experten des Bundeskriminalamts oder Staatsanwaltschaften wie der WKStA, wo die Inhalte gespiegelt werden. Auch hier gibt es noch Möglichkeiten, private Inhalte löschen zu lassen; das passierte beispielsweise in der Causa Thomas Schmid, dessen Rechtsanwalt mit der WKStA Fotos und Nachrichten durchging. Mit einer speziellen Software, meist von der israelischen Firma Cellebrite, werden dann die jeweiligen Chats ausgelesen.

Im U-Ausschuss sagte Staatsanwalt Matthias Purkart: "Wir müssen alles wie bei einem Puzzle Stück für Stück zusammentragen. Wir dürfen dabei möglichst keine einzige Nachricht übersehen, keine Kalendernachricht, keinen Termin, kein Foto – kurz: alles, was relevant sein könnte, sowohl Belastendes als auch Entlastendes." Nachrichten müssten erst "auf den Sinngehalt überprüft" werden, die Auswertung sei ein "aufwendiger Prozess", den man dann "mit dem jeweils aktuellen Wissensstand wiederholen" müsse. Das entspricht internationalen Empfehlungen von Korruptionsermittlern, zum Beispiel der EU-Antikorruptionsbehörde Olaf. In deren Guidelines zur digitalen Forensik heißt es, dass die "Suche nach potenziellen Beweisen ein dynamischer Prozess" sei, der gegebenenfalls "mehrmals durchlaufen" werden müsse. Es gebe eine Vielzahl von Möglichkeiten, um Hinweise zu entdecken: die "Suche nach spezifischen Schlagworten", nach "speziellen Ausdrücken" oder chronologisch.

Wer bestimmt rote Linien?

Persönliche Informationen, die nichts mit den strafrechtlichen Vorwürfen zu tun haben, gehören gelöscht– darin sind sich Praktiker und Theoretiker einig. Doch wo verläuft die Grenze? Zerbes sagt, dass Daten im Zweifel eher in den Akt aufgenommen werden sollten – es könnte ja sein, dass diese Daten, etwa aufgrund späterer Ermittlungsergebnisse, wieder relevant werden. Auf der anderen Seite findet sich etwa Eckart Ratz, einst Präsident des Obersten Gerichtshof (OGH). Er wies vergangenen Herbst in einem Aufsatz auf zwei Entscheidungen des OGH hin, die sich mit der Frage der Persönlichkeitsrechte bei der Führung eines Ermittlungsverfahrens beschäftigten. "Befugnis zum Rechtseingriff verpflichtet zur Rechtsfürsorge", schrieb Ratz. "Wird Unerhebliches zum Akt genommen, liegt darin Fehlgebrauch von Befugnis zur Führung des Ermittlungsverfahrens."

Der OGH beschäftigte sich damals mit einem Verfahren, bei dem die Polizei eine Festplatte mit privaten Urlaubsfotos, zum Teil Nacktfotos, in einen Bericht aufgenommen hatte. Auch deshalb geben Staatsanwälte Beschuldigten die Möglichkeit, allzu private Chats und Fotos zu löschen.

Der Linzer Strafrechtsprofessor Alois Birklbauer bringt im STANDARD-Gespräch eine Reform des StPO-Paragrafen 112 ins Spiel: Der sieht unter anderem vor, dass sogenannte "Berufsgeheimnisträger" wie Anwälte oder Journalisten Sicherstellungen widersprechen dürfen. Dann wandern die Informationen versiegelt zu einem Gericht, das über die Weitergabe an Ermittler entscheidet. Dieses Verfahren könnte man theoretisch auf alle Smartphone-Nutzer ausweiten, sodass die Staatsanwaltschaft vor Gericht begründen müsste, warum sie einzelne Suchbegriffe verwendet oder bestimmte Chats, zum Beispiel mit Verwandten, verwerten will. Auch Reindl-Krauskopf kann dieser Idee "viel abgewinnen". Sie verweist darauf, dass die Strafprozessordnung bereits früher die Möglichkeit zum Widerspruch bei Sicherstellungen für alle hatte, nicht nur für Geheimnisträger. Eine erfahrene Staatsanwältin hält dagegen, dass dadurch neue Probleme entstünden: In manchen Verfahren, etwa Buwog, dauere eine Entscheidung über die Öffnung versiegelter Daten mehrere Jahre.

Die Zufallsfunde

Auf Smartphones findet sich ein buntes Allerlei: vom Sexting zu intimen Chats mit besten Freunden bis hin zu Hinweisen auf nicht ganz korrektes Verhalten. Letzteres dürfen Ermittler nicht zu "übersehen", sie müssen Verdachtsmomenten nachgehen. Entdecken Ermittler etwas, nach dem sie gar nicht gesucht haben, spricht man von einem "Zufallsfund". Ein solcher war auch die berühmte Chatnachricht von Ex-Novomatic-Chef Harald Neumann an Gernot Blümel mit der Spende und dem "Problem in Italien", die 2021 eine Hausdurchsuchung bei Letzterem auslöste. Auch hier sehen einige Strafverteidiger und Experten Reformbedarf. Die große Datenmenge sei ein relevantes Problem, sagt Reindl-Krauskopf: "Man weiß nicht, welcher Chat strafrechtlich relevant ist." Je mehr Nachrichten sich Ermittler vornehmen, desto größer wird die Möglichkeit, dass sie auf Zufallsfunde stoßen. Allerdings verweisen Ermittler, die anonym bleiben müssen, darauf, dass zum Beispiel im Bereich der Suchtgiftkriminalität oder der Kinderpornografie permanent Zufallsfunde zu wichtigen Ermittlungserfolgen führen.

U-Ausschuss und Öffentlichkeit

Das größere Problem sei aus Sicht des Rechtsstaats aber, dass Informationen aus dem Strafakt ihren Weg an die Öffentlichkeit finden, betont Reindl-Krauskopf: "Einerseits ist man weit weg von einer Anklage, aber diskutiert öffentlich über den Fall; andererseits werden auch Rechte von Dritten berührt, die im Akt vorkommen." Es sei jedoch "schwer durchzusetzen", dass keine Informationen nach außen gelangen: "Auch wenn der journalistische Quellenschutz wichtig und berechtigt ist, kann er mitunter die Aufklärung verhindern." Gleichzeitig entschied der Presserat, dass zum Beispiel ein STANDARD-Bericht über Chatnachrichten zwischen Mitgliedern der Regierungsspitze klar im öffentlichen Interesse war. Zerbes meint, man müsse sich "davor hüten", hier Einschränkungen vorzunehmen. Und: "Auch Emojis oder Formulierungen wie ‚Ich liebe meinen Kanzler‘ zeigen ein Stimmungsbild, das für die strafrechtliche Beurteilung relevant sein kann."

Eine besondere Situation ergibt sich nun durch den U-Ausschuss: Chats, die für die Ermittlungen derzeit keine Rolle spielen, aber nicht vernichtet wurden, liegen in einer Art Nirwana. Sie werden gemeinhin als "Rohdaten" bezeichnet. Die Opposition verlangte nun, dass auch diese Rohdaten an den U-Ausschuss gehen; Anlass waren geschwärzte Stellen im Ibiza-Video. Der Verfassungsgerichtshof gab dem Ansinnen recht, daraufhin begann auch die Lieferung von SMS zwischen Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und dem damaligen Vizekanzler Heinz-Christian Strache (FPÖ). Da diese eben nicht Teil des Strafakts sind, gibt es auch keine Akteneinsicht. Die Betroffenen erfahren also nicht, welche ihrer Nachrichten als Rohdaten an den U-Ausschuss gehen.

Keine Einsicht bei "Roh"-SMS

Das führt zu der Situation, dass Abgeordnete und Journalisten Chats von Personen lesen können, die selbst keinen Einblick in das Material haben. Die Strafprozessordnung (StPO) wäre aber nicht der richtige Ansatzpunkt, sagt Birklbauer. Vielmehr betreffen diese Dinge den U-Ausschuss und dessen Verfahrensordnung. Der einstige OGH-Präsident Ratz hat die Entscheidung zu Rohdaten in einem Aufsatz kritisiert: Der VfGH habe "nur öffentliche, nicht aber Grundrechte als Rechtfertigung" dafür, ein Verlangen des U-Ausschusses abzulehnen, gelten lassen. Reindl-Krauskopf plädiert dafür, "ausdrückliche Regelungen für den U-Ausschuss" zu schaffen. Auch für Zerbes gehört das repariert.

Politisch klagt vor allem die hauptbetroffene ÖVP über mangelnden Schutz von Persönlichkeitsrechten im U-Ausschuss. Allerdings ist das mit Angriffen auf die Justiz und Unterstellungen gegen die WKStA verbunden. In seinem Statement vor dem U-Ausschuss sagte Blümel: "Dass nun gerade Abgeordnete, die in den letzten Jahren offiziell stets für Datenschutz und Persönlichkeitsrechte eingetreten sind, sich nun an persönlichen Nachrichten delektieren und diese genüsslich kommentieren, ist eigentlich entlarvend."

Die Opposition verweist hingegen darauf, dass die Chatprotokolle die einzigen Dokumente sind, durch die man die Entscheidungsfindung unter Türkis-Blau nachvollziehen könne. "Das ist ja das Problem: dass hier lauter Unzuständige miteinander reden, die anscheinend privat und beruflich nicht seriös voneinander trennen können, aber das ist Ihr Problem und nicht unser Problem – zumindest nicht primär, am Ende dann schon", erklärte bei Blümels Befragung Neos-Abgeordnete Stephanie Krisper.

Bei seiner ersten Befragung fiel Blümel mit über achtzig Erinnerungslücken auf, bei seiner zweiten mit Entschlagungen. Der VfGH entschied nun, dass Kanzler Kurz mehr E-Mails vorlegen müsse, er hatte keine einzige persönliche E-Mail an den U-Ausschuss übermittelt. Das Finanzministerium verzögert die Lieferung von Daten seit Monaten.

Ministerium "evaluiert"

Und was sagt das Justizministerium? Dort heißt es, dass "die Sicherstellung und Auswertung großer Datenmengen (etwa Mails, Chats, etc.) für Strafverfolgungsbehörden gerade bei Großverfahren fordernd" seien. Das Ministerium habe bereits "die Evaluierung von Großverfahren in Auftrag gegeben. Dabei wird anhand bereits abgeschlossener Verfahren evaluiert, welche Umstände ein Verfahren positiv oder negativ beeinflussen. In diesem Zusammenhang wird auch die Auswertung von Daten beleuchtet werden." Dies erfolge mit breiter Einbindung verschiedener Gruppen, zum Beispiel mit Expertinnen und Experten, Staatsanwaltschaften und Finanzbehörden. "Im Anschluss wird das Justizministerium – aufbauend auf den Ergebnissen der Evaluierung – prüfen, ob Änderungen der Strafprozessordnung notwendig sind."

Politisch wäre eine Reform derzeit wohl nicht durchzubringen. Das zeigte schon die überhitzte Debatte rund um eine Reform anderer Bereiche der Strafprozessordnung, nämlich anhand der Frage nach Razzien in Behörden. Diese sollten in den meisten Fällen verboten werden, stattdessen sollte Amtshilfe zum Einsatz kommen. Ein Vorschlag, der rechtstheoretisch noch vor kurzem kaum umstritten war. Nach den zahlreichen Korruptionsaffären hat sich die Stimmung gedreht – und so politisiert wäre wohl auch eine Debatte über mehr Beschuldigtenrechte beim Thema Chats. So sagt auch Zerbes, dass es wohl am klügsten wäre, nun die großen Korruptionsverfahren abzuarbeiten – und sich dann, "wenn die Wunden geheilt sind", an eine Reform zu wagen. (Fabian Schmid, 22.4.2021)