Für den Soziologen Bernhard Weicht rücken die Debatten über die Sterbehilfe und, weiter gefasst, das würdevolle Sterben "viel mehr als rein juristische Fragen zum Lebensende in das Blickfeld". Es gehe auch darum, schreibt er in seinem Gastkommentar, "wie wir uns ein gutes, würdevolles Leben vorstellen". Lesen Sie dazu auch den Gastkommentar von Peter Kampits: "Die ausgesparte Dimension der Ethik".

Wenn es mir einmal sehr schlecht geht, möchte ich lieber sterben. Bevor ich nur dahinvegetiere, möchte ich lieber abtreten. Bevor ich anderen zur Last falle, möchte ich gehen.

Diese oder ähnliche Aussprüche kennen viele von uns aus Gesprächen mit Personen aus dem näheren Umfeld. Oft können wir einige dieser Gedankengänge selbst gut nachvollziehen. Die Angst vor Herausforderungen und Schwierigkeiten, die mit hohem Alter verbunden sein können, betrifft dabei alle Bevölkerungsgruppen- und schichten.

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Die Corona-Pandemie hat ein Thema stark in den Fokus gerückt, das allzu gern verdrängt wird: das Sterben respektive den Tod.
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Aber welche Vorstellung des Lebens im hohen Alter wird hier eigentlich beschrieben? In der Soziologie und Gerontologie unterscheidet der Begriff des "Vierten Alters" eine Lebensphase, die vom "Dritten Alter", das mit dem Ende der Erwerbsarbeit beginnt und das sich durch Aktivitäten, Fitness, Konsum und Genuss auszeichnet, abgegrenzt wird.

Das Vierte Alter ist demnach geprägt von körperlichem und geistigem Verfall, Abhängigkeiten und Pflegebedürftigkeit. Allerdings stellt diese Unterscheidung des "aktiven" vom "passiven" Altern weder eine chronologische noch eine biologische Tatsache dar.

Ein Gegenstück

Vielmehr wird damit ein sozial konstruiertes Verhältnis skizziert, bei dem die gesellschaftliche Vorstellung des Vierten Alters zur Aufrechterhaltung einer Distanzierung dient: Durch die Abgrenzung und linguistische Eingrenzung einer bestimmten Personengruppe (kranke, passive, vulnerable Alte) können alle anderen (demnach auch ältere, fitte und "aktive" alte Menschen) ihre Teilhabe am guten, lebenswerten und würdevollen Leben hervorheben.

Das Vierte Alter dient demnach der Beschreibung eines Gegenstücks zum guten Leben. Ein Sterben in Abhängigkeiten von anderen und in stigmatisierten Institutionen symbolisiert dabei das absolut Andere, während ein guter Tod idealerweise zu Hause, selbstbestimmt und ohne Leiden vonstattengeht. Betrachtet man die Sterbehilfe-Debatte in diesem Licht, geht es hier nicht nur um ein sogenanntes würdiges Sterben, sondern auch um die gesellschaftliche Aushandlung darüber, was denn ein gutes Leben eigentlich ausmacht.

Im Folgenden möchte ich drei wichtige Aspekte herausgreifen:

  • Würde Von allen Seiten der Debatte wird ein würdevolles Leben und Sterben als Ziel formuliert, wobei die meisten Positionen hier mit einem ontologischen Verständnis argumentieren: Würde wird als absolut und universal dargestellt; als beschreibbar und bestimmbar für alle. Im Falle der Befürworterinnen und Befürworter der Sterbehilfe wird etwa würdevolles Sterben als selbstbestimmtes, aktives und autonomes Handeln beschrieben, womit Leiden verhindert werden kann
  • Leiden Das Ziel der Zuschreibungen eines würdevollen Sterbens stellt oft die Verhinderung des Leidens dar. Aber ähnlich wie andere Konzepte in der Debatte ist auch das Verständnis von Leiden gesellschaftlich bedingt, was sich deutlich am Beispiel der Niederlande zeigt, wo Sterbehilfe schon länger unter bestimmten Voraussetzungen legal ist: Während nach der derzeitigen Rechtslage eine der Bedingungen für Sterbehilfe die von Ärztinnen und Ärzten bestätigte Existenz von unerträglichem Leiden ist, versucht eine Bürgerinnen- und Bürgerinitiative diesen Tatbestand dahingehend auszuweiten, dass auch ein allgemeines Leiden am Leben anerkannt werden soll. Sterbehilfe soll es demnach möglich machen, selbstbestimmt ein Leben in Abhängigkeit, im Zustand des körperlichen oder geistigen Verfalles oder in Einsamkeit zu verhindern.
  • Handlungsmacht Individuelle Autonomie hat in den letzten Jahrzehnten in der Bevölkerung stark an Wichtigkeit zugelegt. Aktiv über die Verhinderung des Vierten Alters entscheiden zu können könnte dabei die eigene Handlungsmacht bis zum Tod erweitern, womit Sterbehilfe als Symbol der Kontrolle über den Kontrollverlust gesehen werden kann. Durch die Möglichkeit der Sterbehilfe wird damit ein Leben und Sterben in Würde sichergestellt. Diese Ausweitung der Handlungsmacht stärkt somit die Bedeutung der individuellen Autonomie und führt, schlussendlich, zu einer Neuinterpretation des guten Lebens.

Kulturell und sozial bedingte Vorstellungen des guten Lebens bedingen auch eine Vorstellung über die Rolle des Todes und des Sterbens. Diese wiederum haben Auswirkungen auf die Vorstellungen des guten Lebens. Die Debatten über die Sterbehilfe und, weiter gefasst, das würdevolle Sterben rücken demnach viel mehr als rein juristische Fragen zum Lebensende in das Blickfeld. Es geht auch darum, wie wir uns ein gutes, würdevolles Leben vorstellen.

Die aktuelle Diskussion über die Sterbehilfe sollte uns somit als Einladung dazu dienen, über die Bedingungen und Möglichkeiten eines guten Lebens unter den Bedingungen gegenseitiger Abhängigkeiten, Verletzlichkeiten und des Leidens nachzudenken. In Zeiten einer globalen Pandemie rücken diese Bedingungen verstärkt in den Blickpunkt. Wie ein gutes, würdevolles Leben definiert wird, ist allerdings auch darüber hinaus eine täglich neue gesellschaftliche Aushandlung. (Bernhard Weicht, 23.4.2021)