Ethiker Peter Kampits ärgert sich in seinem Gastkommentar über die Zusammensetzung des Dialogforums, das über die Sterbehilfe debattieren soll. Gehe es doch in der Debatte um "wesentliche Bestandteile der Ethik". Lesen Sie dazu auch den Gastkommentar von Bernhard Weicht: "Kontrolle über den Kontrollverlust".

Dass der Mensch weder auf ein bloßes Rechtssubjekt noch auf eine statistische Größe reduzierbar ist, dürfte sich in Zeiten der Pandemie allmählich herumgesprochen haben.

Die Vulnerabilität und Endlichkeit des menschlichen Seins – lange Zeit verdrängt und tabuisiert – steigt uns immer mehr ins Bewusstsein, verstärkt durch die täglichen Todesmeldungen und Bilder aus den Intensivstationen.

Wie aber dieses Sterben geschieht, wie es sich auch gestalten ließe – darüber gehen die Meinungen weit auseinander, auch wenn wir uns wohl alle ein möglichst schmerz- und leidensfreies Ende wünschen, umgeben von Menschen, die wir lieben, in einer Umgebung, die uns nicht fremd ist.

Der Verfassungsgerichtshof hat im Dezember einen Passus im Strafgesetzbuch aufgehoben, der Hilfeleistung bei Suizid verbietet.
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Der jüngste Spruch des Verfassungsgerichtshofs (VfGH) von 2020 hat die Debatte über ein menschenwürdiges Sterben neu entfacht, weil es die Frage nach Autonomie und Selbstbestimmung, Sterbebegleitung und Sterbehilfe in den Mittelpunkt rückt.

Notwendige Debatte

Das "Erkenntnis" des VfGH könnte eine Liberalisierung und damit auch eine Humanisierung einleiten, die auf einer Neuregelung des Paragrafen 78 fußt. Dazu wäre es notwendig, Rahmenbedingungen auszuarbeiten, unter denen die Mitwirkung am Suizid straffrei bleiben kann. Analog etwa zu den Regelungen in den Niederlanden oder im US-Bundesstaat Oregon wäre Sterbehilfe an bestimmte Voraussetzungen gebunden: zahlreiche persönliche Gespräche mit einem Arzt des Vertrauens, um die Freiwilligkeit des Verlangens nach Beihilfe zu prüfen, das Vorliegen einer unheilbaren, zum Tode führenden Erkrankung, das Hinzuziehen eines weiteren Arztes zur Überprüfung und das Einhalten einer bestimmten Frist zwischen der Entscheidung des Suizidanten und des Aktes der Hilfe zum Sterben.

Nun scheint die Absicht des unter der Federführung des Justizministeriums veranstalteten Dialogforums zu sein, die Erstellung solcher Kriterien – der Verhinderung von Missbrauch und ökonomischen oder privaten Drucks – zu erarbeiten. Leider aber ist die Zusammensetzung dieses Forums extrem einseitig, vor allem angesichts der bestehenden pluralistischen Wertegemeinschaft in unserer Gesellschaft. Dass hauptsächlich Mitglieder konfessioneller Institutionen eingeladen sind, mag für österreichische Verhältnisse nicht überraschen. Angesichts der gesamteuropäischen und weltweiten Trends mutet dies allerdings seltsam an, nicht nur wenn man auf die jüngsten Entwicklungen in Portugal, Spanien, Neuseeland und Kanada blickt.

Auch wenn aus juridischer Sicht der Bezug auf die diversen Menschenrechtserklärungen im Vordergrund steht und das Recht auf Selbstbestimmung und autonome Lebensgestaltung besonders betont wird, sind Autonomie und selbstständige Lebensgestaltung auch Grundbegriffe der Ethik. Dies gilt auch für die in diesen Diskussionen immer wieder herangezogene "Würde des Menschen".

Hoher Sinnüberschuss

Da der Begriff Würde einen nicht geringen Sinnüberschuss aufweist (Würde als Wesensmerkmal, als Gestaltungsauftrag oder etwa als religiös motivierte Grundgegebenheit des menschlichen Seins, aber auch als vulnerable Eigenschaft), überrascht es nicht, wenn er sowohl von Befürwortern als auch von Gegnern der Sterbehilfe für ihre Argumentationen in Anspruch genommen wird.

Im Wesentlichen kann diese Diskussion nicht ohne Bedachtnahme auf die Ethik erfolgen, die aufgerufen ist, Prinzipien und Anleitungen für ein gelingendes, geglücktes Leben zu erstellen. Deshalb ist auch in der festgefahrenen und weitgehend ausgereizten Diskussion zwischen Befürwortern und Gegnern der Beihilfe zum Suizid immer wieder auf diese ethische Dimension hingewiesen worden. Die Kontroversen bezüglich Themenfeldern wie "Lebensrecht" versus "Lebenspflicht", "Heiligkeit und Unantastbarkeit des Lebens" gegen "Beachtung der Lebensqualität", "Recht auf Gesundheit" versus "Pflicht zur Gesundheit" lassen sich kaum zufriedenstellend auflösen. Dies gilt vor allem für den Gegensatz zwischen einem unbarmherzigen Verlängern eines schweren Leidenszustandes und der Bitte um Hilfe zur Beendigung des Lebens, wenn Letztere in etlichen Fällen nicht mehr selbstständig vollzogen werden kann. Zwischen der immanenten Mitleidlosigkeit eines strengen Rigorismus und einer Beihilfe zum Suizid aus Mitleid oder Liebe darf aus ethischer Sicht nicht von außen entschieden werden. Beiden sind keine Kategorien der Rechtsprechung, sehr wohl aber wesentliche Bestandteile der Ethik.

Zudem gilt es, ein Ausspielen von Sterbehilfe versus Palliativmedizin zu verhindern. Die Möglichkeit der Wahl zwischen beiden zählt mit zur Verstärkung der Autonomie des Einzelnen.

Hilfe zur Orientierung

Ethische Überlegungen können auch mannigfache Missverständnisse ausräumen, wie etwa die Fehldeutung von Autonomie als Willkür und die Ablösung freier Entscheidungen von der damit verbundenen Verantwortung.

Ethik will und soll Orientierungshilfen und Prinzipien für unser Handeln erstellen, sicherlich aus wertender Perspektive, aber ohne unumstößliche ideologische oder dogmatische Überzeugungen. Hier geht es auch nicht um die Frage, welche Form, Richtung oder Methode der Ethik vorzuziehen wäre, es genügt, sich im Rahmen jener Grundprinzipien zu bewegen, die in der Medizinethik im Allgemeinen unbestritten sind: Autonomie, Fürsorge, Nichtschaden und Gerechtigkeit. Im jeweils konkreten Fall müssen diese im Sinne einer Güterabwägung situativ entschieden werden. Aufgabe des Gesetzgebers ist an dieser Stelle, hierfür die entsprechenden Rahmenbedingungen zu formulieren.

Fragen des Lebensendes sind immer noch eine der letzten Bastionen der Verquickung von Religion und Staat. Es ist höchst an der Zeit, dass wir in aufgeklärten Gesellschaften unserem Wertepluralismus auch auf diesem Gebiet Rechnung tragen. Dies ist das Wesentlichste, was die Gesellschaft in der Situation des Sterbens für den Einzelnen beizutragen hat. (Peter Kampits, 23.4.2021)