Was tun, wenn es nicht genug Impfstoff gibt? Gleichbehandlung funktioniert dann nicht.

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Szenario 1: An einem Vormittag im Juli 2020 informierte der Vorstand der Commerzialbank Mattersburg die Finanzmarktaufsicht (FMA) darüber, dass sein Kreditinstitut nicht mehr zahlungsfähig war. Bis die FMA den Geschäftsbetrieb der Bank offiziell untersagte, vergingen einige Stunden. Eine solche Hiobsbotschaft sickert durch; das lässt sich nicht verhindern. Wer dabei wen informiert hat, darüber gibt es derzeit unterschiedliche Aussagen, die – wie nun bekannt geworden ist – die Staatsanwaltschaft prüft. Die Information fand ihren Weg auch zu einer dem Land Burgenland gehörenden Gesellschaft, die vor der Banksperre noch schnell 1,2 Millionen Euro von ihrem Konto abzog. Die Aufregung war groß.

Situationen wie diese umschreiben Juristen mit dem Bild vom Gläubigerwettlauf (race to the pool): Wer die längeren Beine hat, wer gut informiert ist, wer Druck auf den Schuldner ausüben kann, wer ihm Vorteile verspricht oder mit ihm verwandt ist, wird rechtzeitig und voll befriedigt. Wer aber kommt, nachdem alles verteilt ist, geht leer aus. Es herrscht das Recht des Schnelleren und des Stärkeren.

Eine moderne Rechtsordnung kann dies nicht tolerieren. Abhilfe schafft daher in nahezu allen Staaten der Welt das Insolvenzverfahren: Sobald das Vermögen des Schuldners nicht genügt, um alle Gläubiger voll zu befriedigen, können sie ihre Ansprüche nur mehr nach dem Prinzip der Gleichbehandlung durchsetzen. Nicht mehr Schnelligkeit des Gläubigers und Willkür des Schuldners entscheiden darüber, wer leer ausgeht und wer nicht. Vielmehr gilt eine zwingende Verteilungsregel, nach der alle gleichmäßig zu befriedigen sind (par condicio creditorum).

Weniger geliefert als versprochen

Szenario 2: Ebenfalls im Sommer 2020 hat ein Impfstoffhersteller mehreren Abnehmern – darunter der EU-Kommission – versprochen, große Mengen an Impfdosen zu liefern. Seit ein paar Wochen sind diese Lieferungen fällig, allerdings übersteigt deren Summe den verfügbaren Vorrat. Derzeit muss die EU zusehen, wie der Hersteller seine Bestände überwiegend in außereuropäische Regionen verschifft, obwohl man hierzulande ebenfalls darauf wartet. Wiederum war die Aufregung groß. Darf der Hersteller frei entscheiden, an wen er liefert und wer leer ausgeht? Verschiedene Umstände können seine Entscheidung beeinflussen – etwa der vereinbarte Preis oder auch "Provisionen" an die Entscheidungsträger. Kann die Rechtsordnung diesen Gläubigerwettlauf hinnehmen?

Auf solche Situationen reagiert die Rechtsordnung gewöhnlich mit dem Insolvenzverfahren. Nur ist dieser Weg hier blockiert, weil sich allein aus dem unzureichenden Vorrat noch kein Insolvenzgrund ergibt. Dennoch entschied das deutsche Reichsgericht schon vor über hundert Jahren, dass in derartigen Fällen auch ohne Insolvenz das Prinzip der Gläubigergleichbehandlung gilt und der beschränkte Vorrat quotenmäßig zu verteilen ist. Verletzt der Schuldner diese sogenannte Repartierungspflicht, indem er einzelne Gläubiger bevorzugt, haftet er den zu kurz Gekommenen auf den Ausfall.

Schwierige Gläubigergleichbehandlung

Österreichische Gerichte tun sich mit der Gläubigergleichbehandlung außerhalb einer Insolvenz jedoch schwer. Das bringen jüngere Entscheidungen zur Dritthaftung des Abschlussprüfers deutlich zum Ausdruck. Hat der Abschlussprüfer ein unrichtiges Testat erteilt und schlittert die geprüfte Gesellschaft in die Krise, können Gläubiger der Gesellschaft ihren Ausfall vom Abschlussprüfer ersetzt verlangen (nota bene: eine Fortsetzung von Szenario 1). Seine Haftung ist allerdings betraglich beschränkt (§ 275 UGB analog).

Reicht dieser Höchstbetrag nicht aus, um alle geschädigten Gesellschaftsgläubiger zu befriedigen, droht wiederum ein Wettlauf. Der Oberste Gerichtshof (OGH) nimmt das in Kauf: Da das Gesetz keine Gleichbehandlung anordnet, entscheidet der Abschlussprüfer, wen er voll befriedigt und wer leer ausgeht – ein Ergebnis, das nicht jeden überzeugt. Nach dieser Rechtsprechung des OGH hätte der Impfstoffhersteller demnach wenig zu befürchten; vor deutschen Gerichten hingegen träfe ihn die Repartierungspflicht und er müsste den zu kurz Gekommenen für den Ausfall haften.

Mehr Impfwillige als Impfdosen

Szenario 3: Trotz der Lieferverzögerungen verfügt die EU mittlerweile über Vorräte an Impfdosen. Sie reichen aber in keinem Land aus, um alle Impfwilligen zu versorgen. Damit stehen gewissermaßen mehrere Gläubiger, die Impfwilligen, einem Schuldner gegenüber, nämlich der Gesundheitsbehörde, die einen unzureichenden Vorrat zu verteilen hat. Der Wettlauf ließ nicht lange auf sich warten. Über "längere Beine" konnten sich dabei unter anderem jene freuen, die als Kommunalpolitiker gute Beziehungen zu Altenheimen pflegen. Und wieder war die Aufregung groß.

Diese Konstellation zeichnet sich jedoch durch eine Besonderheit aus: Gläubigergleichbehandlung hilft hier nicht weiter. Niemandem wäre gedient, wenn die Gesundheitsbehörde den Impfvorrat quotenmäßig verteilt und jedem Impfwilligen bloß ein Viertel der Impfdosis verabreicht. Freilich heißt das nicht, dass sich das Schreckgespenst des Gläubigerwettlaufs nicht bekämpfen lässt. Dazu eignet sich nämlich jede Verteilungsregel, die die Willkür des Schuldners und einen Gläubigerwettlauf unterbindet. Der Impfplan ist nichts anderes als eben eine solche Verteilungsregel. Er weist den "Gläubigern" nach bestimmten Kriterien einen festen Rang zu: Je dringender der Bedarf nach Impfschutz, desto besser der Befriedigungsrang.

Ohne Regeln bleibt der Wettlauf

Fazit: Überall, wo ein Vorrat zu verteilen ist, der nicht für alle Berechtigten ausreicht, braucht es eine Verteilungsregel. Sonst droht ein Wettlauf – und es herrscht das Recht des Stärkeren. Das gilt nicht nur in der Insolvenz, sondern auch außerhalb. Gleichbehandlung ist dabei nur eine der denkbaren Verteilungsregeln. Die Kunst besteht darin, die richtige Regel zu finden – oft eine politische Entscheidung. Das hat schon Aristoteles gesehen: Will etwa die griechische Polis einen beschränkten Vorrat an Flöten auf ihre Bürger verteilen, sollen jene vorrangig zum Zug kommen, die dieses Instrument am besten spielen. (Olaf Riss, 23.4.2021)