Till Raether: "Es war ein Moment der Klarheit, an dem ich erkannte, dass es mit dem jahrelangen Zusammenreißen nicht mehrweitergeht."

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Es war Zufall, dass das Zoom-Interview mit Till Raether ausgerechnet an dem Tag stattfand, an dem der österreichische Gesundheitsminister Rudolf Anschober zurückgetreten ist. Wegen Überarbeitung. "Ach Gott", sagt Till Raether, als ich ihn gleich frage, ob er davon gehört habe. Ja, hat er.

Till Raether: Bei allem Verständnis ist mir gleich etwas ganz schrecklich Ungerechtes durch den Kopf gegangen: Hätte der sich nicht ein bisschen zusammenreißen können? Davon handelt ja auch mein Buch. Beim deutschen Gesundheitsminister Jens Spahn wäre das undenkbar, dass der so eine Schwäche zulassen würde. Aber natürlich finde ich es gut und richtig, wie das Herr Anschober gemacht hat.

STANDARD: Der Titel Ihres Buchs Bin ich schon depressiv, oder ist das noch das Leben? passt da ganz gut. Es endet damit, dass Sie im Frühjahr 2020 mit einer Therapie beginnen. Wie ging es Ihnen im vergangenen Jahr?

Raether: Für mich war es ein Glücksfall, dass diese Therapie zeitgleich mit Corona begonnen hat. Es war ein Ort, an dem es einmal pro Woche nur darum ging, wie es mir geht. Das war ein großes Privileg, weil man zunächst gar nicht wusste, wie viel Kraft einen alles während dieser Zeit kosten würde. Diese Therapie war lange Zeit überhaupt der einzige Bereich, wo ich außerhalb der Familie jemanden getroffen habe. Einige Wochen lang musste alles per Video stattfinden, daran konnte ich mich nur schwer gewöhnen.

STANDARD: Haben Sie das Gefühl, dass Corona ein Motor für Depressionen ist?

Raether: Ich kann das nicht als Fachmann beurteilen. Aber Corona hat eine starke Parallele zur Depression. Wir sollten uns nun alle so verhalten, wie ich mich immer geschämt habe, mich zu verhalten: nicht rausgehen, nicht gerne Leute treffen, zu Hause auf dem Sofa bleiben. Zunächst fand ich das entlastend. Aber zunehmend konnte man sehen, dass diese Mischung aus diffuser Bedrohung, Frustration, Alleingelassenheitsgefühlen gegenüber der Politik, Stillstand und die Gleichförmigkeit der Tage nicht nur eine große Schnittmenge mit depressiven Verstimmungen hat, sondern auch ein auslösendes und verstärkendes Moment ist.

STANDARD: Wann ist Ihr Buch entstanden?

Raether: Das Buch war tatsächlich mein Corona-Projekt. Ich habe es Ende 2019 mit dem Verlag vereinbart und es während des Corona-Jahres geschrieben. Das Wort Corona kommt aber nur ein einziges Mal vor. Ich wollte das trennen. Es war dann tatsächlich angenehm, sich in dem Buch mit etwas zu beschäftigen, das nichts mit Corona zu tun hat.

STANDARD: Sie schreiben an einer Stelle: "Die Gesellschaft liebt hochfunktionale Depressive." Was bedeutet das?

Raether: Tatsächlich ist die Person, die auch während einer Depression am Arbeitsplatz immer noch funktioniert, eine, die sich immer wieder aufs Neue zusammenreißen kann. Eine Person, die immer wieder den Impuls findet weiterzumachen, auch wenn es ihr nicht gutgeht. Solche Menschen leiden gern unter Schuldgefühlen, andere einmal im Stich zu lassen. Und aus dieser Angst zu enttäuschen machen sie immer weiter und haben aus alldem heraus meist sehr gute Resultate vorzuweisen.

"Tatsächlich ist die Person, die auch während einer Depression am Arbeitsplatz immer noch funktioniert, eine, die sich immer wieder aufs Neue zusammenreißen kann." Till Raether
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STANDARD: Gab es diesen Punkt, an dem Sie Ihren Zustand als Krankheit akzeptiert haben?

Raether: Ich nenne diesen Punkt meinen Zusammenbruch. Es war ein Moment der Klarheit, an dem ich erkannte, dass es mit dem jahrelangen Zusammenreißen nicht mehr weitergeht. In diesem Augenblick war mir die buchtitelgebende Frage Bin ich schon depressiv, oder ist das noch das Leben? auch wirklich egal. Ich dachte nur: So geht es nicht weiter! Die folgende Diagnose, dass es sich tatsächlich um eine mittelschwere depressive Episode handelt, war weniger bedrohlich, sondern mehr ein Ausgangsszenario.

STANDARD: Alles, was nachher kam, hat auch viel mit einem Outing zu tun. Wie hat sich das angefühlt?

Raether: Das gibt es mehrere Komponenten. Kurz nachdem ich angefangen habe, Antidepressiva zu nehmen, habe ich für die deutsche Zeitschrift Brigitte einen Text darüber geschrieben. Im Privaten gab es die Freunde, die gesagt haben: "Wir kennen uns so lange, warum hast du nie etwas gesagt?" Was meine Mutter betrifft, war das schwierig, weil sie immer Angst hatte, dass sie ihre depressive Tendenz an mich weitergegeben hat. Meine Mutter wollte auch das Buch nicht lesen. In meiner eigenen Familie habe ich versucht, das alles offen, aber nicht zu offensiv anzusprechen. Ich habe zwei Teenagerkinder, bei denen ich versuche, mit meinen Befindlichkeiten nicht zu penetrant zu sein. "Hey, ihr wisst ja", habe ich zu ihnen gesagt, "dass es mir manchmal nicht so gut geht, deswegen mache ich Therapie." Es ist "normal" geworden, und manchmal fragen die Kinder auch: "Mensch, Papa, wie geht’s dir so?" Das fühlt sich dann wie eine schöne Utopie an, in der es gut ist, so wie es ist.

STANDARD: Hatten Sie je Angst, die Depressionen an Ihre Kinder weiterzugeben?

Raether: Ja, diese Phase gab es, als mein Sohn einmal eine Zeit lang sehr niedergeschlagen war, da war sofort meine innere Stimme da: Das hat er von dir. Heute sehe ich das differenzierter. Wir sind damals auch zum Kinderpsychiater, aber uns wurde sehr nett kommuniziert, dass wir uns da zu viele Gedanken machen.

STANDARD: An mehreren Stellen im Buch stellen Sie sich die Frage: Warum kann ich denn nicht normal sein? Dabei ist die "Normalität" als Begriff in der Gesellschaft ohnehin unter Beschuss. Sind Depressionen heute weniger tabuisiert als früher?

Raether: Menschen sind dankbar für das klare Benennen von Umständen. Ich sage deswegen: Mir geht es diese Woche nicht gut. Das führt zu einer enormen Erleichterung. In der Gesellschaft hilft natürlich alles, was weg von Normen führt. Was mich in meiner Depression anging oder -geht, war das leider leichter gesagt als getan. Die depressive Stimme, die ich im Kopf habe, die ist nicht so fortschrittlich wie die Firma Unilever, die keine Cremes mehr für "normale Haut" anbietet. Auch wenn ich das nach außen hin vertrete. Diese Stimme ist leider sehr reaktionär, verurteilt Schwäche und Erschöpfung und hat eine sehr klare Vorstellung davon, was normal ist: gutgelaunt aufstehen, Sport machen und dann fit am Schreibtisch sitzen. Die Entwicklung der Gesellschaft passiert hier schneller als die der Stimme im Kopf manch depressiver Person.

STANDARD: Sie schreiben, dass die Sucht nach Anerkennung einen Teufelskreis bildet und dieser "A-Stoff" unter Medienmenschen verbreitet ist. Gab es da Feedback aus der Branche?

Raether: Ich habe via Social Media viele Rückmeldungen bekommen: "Ja, kommt mir bekannt vor" etc. Ich persönlich bin in meiner Tätigkeit im Journalismus vielen Menschen begegnet, in deren Persönlichkeitsstruktur ich mich wiedererkenne, nämlich einer Anerkennung hinterherzujagen, die man eigentlich gar nicht mehr viel bekommt, auch weil der Konkurrenzkampf auf diversen Plattformen so groß geworden ist. An mir selbst bemerke ich eine Art von Bedürftigkeit, vor der mir manchmal gruselt, wenn man wieder einmal etwas geschrieben oder getwittert hat. Ich beiße mir auf die Zunge, um es nicht eine Berufskrankheit zu nennen. Auf Twitter bin ich erst aktiv, seit ich mich mit meiner Depression beschäftige und seit ich angefangen habe, Antidepressiva zu nehmen. Ich finde es schön, so schnell und ein bisschen unverbindlich mit der Welt in Kontakt zu sein, aber dabei auch immer die Distanz zu wahren.

STANDARD: Sie schreiben in Ihrem Buch über Dinge, die uns in der Kindheit prägen. Denken Sie, dass Corona etwas mit unseren Kindern und Jugendlichen macht?

Raether: Ja, ganz bestimmt. Das gehört für mich zu den zentralen Fragen, über die ich in der Corona-Zeit nachdenke. Ich habe das Gefühl, dass das alles mit der Gesellschaft etwas macht. Corona macht vieles sehr klar, zum Beispiel auch dass es sehr viel weniger Solidarität gibt und dass ein deutliches Ungleichgewicht zugunsten großer, wirtschaftlicher Interessen herrscht. Es ist verblüffend, wie schnell so eine Gesellschaft bereit ist, eine Krise auf dem Rücken von Kindern auszutragen. Das Thema der Schul- und Kindergärtenöffnungen immer wieder zu einem Moment großer Unsicherheit für Kinder und Eltern zu machen. In Deutschland hat es lang gedauert, bis es mit dem Remote-Unterricht geklappt hat. Ich finde, dass Kinder in vielerlei Hinsicht im Stich gelassen werden, ganz abgesehen von den prekären Situationen, die vielleicht zu Hause herrschen. Sie können ihre Freunde nicht sehen, sie haben komischen Schulunterricht, sie stehen trotzdem unter Notendruck. Wir können noch gar nicht absehen, was das für die nächsten Jahre bedeutet. Man ist ja auch als Mutter und Vater gefordert, die Staatsraison zu erklären, die oft nicht die eigene ist. In der Pandemie bin ich da an meine Grenze gestoßen. Ich bin erstaunt, wie friedlich die Jugendlichen noch sind. Ich sage zu meinem Sohn: "Sag’s mir gar nicht, mach es einfach!" Aber er sagt: "Ich mach mir Sorgen um euch, dass ich euch anstecke." Den Kindern wird pervers aufgezwängt, dass sie sich um die Eltern sorgen müssen.

STANDARD: Sie haben sich im Buch auch viel mit dem Thema "schlechtes Gewissen" befasst.

Raether: Kindern wird derzeit suggeriert, dass sie eigentlich alles nur falsch machen. Mit den Kontakten, mit den Tests, mit den Freunden. Und immer, wenn es in Deutschland um die bevorstehenden Öffnungen ging, werden die vielen psychischen Belastungen, die Corona mit sich bringt, ins Feld geführt. "Die armen Kinder!", heißt es da, und: "Die Leute werden verrückt!" Aber es gibt nicht mehr Therapieangebot, im Gegenteil, der Zugang ist erschwert worden. Man benutzt psychisch angeschlagene Menschen als Argumentationsmasse, ohne irgendetwas für sie zu tun. Das ist ärgerlich und zynisch.

STANDARD: Wer Ihr Buch gelesen hat, der weiß, dass gute Ratschläge bei Ihnen auch nicht gut angekommen sind. Sie schreiben an einer Stelle im O-Ton vom "Grenzübertritt aus dem Reich der Hilflosigkeit". Haben Sie dennoch einen schnellen Tipp für Leser und Leserinnen, wie so ein Grenzübertritt gelingen könnte?

Raether: Okay, wow. Ich hatte selber keinen solchen Tipp, ich brauchte einen Zusammenbruch. Vielleicht wäre ich früher aktiv geworden, wenn ich öfter zu mir selbst gesagt hätte: Das musst du jetzt nicht aushalten. Und: Willst du dich immer so schlecht fühlen? Das klingt schon einmal anders als: Reiß dich zusammen! Also mein Tipp: einfach einen freundlicheren, nachsichtigeren Ton gegenüber sich selbst anschlagen.

STANDARD: Werden Sie Ihr Buch verschenken?

Raether: Nein, das werde ich nicht. (lacht) Ich habe ja in den vergangenen Jahren auch Krimis geschrieben. Wenn wir wo eingeladen waren, sagte meine Frau gern: "Bring doch dein Buch!" Ich finde das schon bei Krimis eine Zumutung. Dieses Buch ist das erste, wo Leute zu mir sagen: "Kannst du mir das geben" und wollen, dass ich etwas reinschreibe. Aber ich würde nirgendwo hingehen, es mitbringen und sagen: "Schau, ich glaub, du brauchst das!" (Mia Eidlhuber, 25.4.2021)