Bild nicht mehr verfügbar.

Zweifellos haben die Ermächtigungen unter Corona deutlich protonormalistischen Charakter: dominante "Verbote", die teilweise sogar Grundrechte suspendieren – von Versammlungs- und Demonstrationsverboten bis zu Beherbergungs-, Reise-, Böller- und jüngst Skiverboten.

Foto: Getty Images / imaginima

In ihrer mehr als einjährigen Geschichte hat die Corona-Krise eine Menge Verwirrung, viel Ungewissheit und wenig Konsens zustande gebracht. Von den wohl stabilsten zwei Konstanten und ihrem Zusammenhang soll im Folgenden die Rede sein: von der "Normalität" und von der Regulierung der Bevölkerung mittels statistischer Kurven.

Für den gesamten Komplex statistischer Kurven wird der Begriff "(normalistische) Kurvenlandschaft" verwendet. Wollte man die Geschichte der Corona-Krise, soweit sie unstrittig ist, auf eine Kurzformel bringen, so würde diese lauten: Corona hat die "Normalität" zerstört, also eine "Denormalisierung" ausgelöst, und am Ende der Krise wird die "Rückkehr zu Normalität", die "Normalisierung", stehen müssen.

Nun scheint "Normalität" zwar die allgemeine Geschäftsgrundlage von der hohen Politik und den hohen Medien bis in die Fußgängerzonen zu sein – aber niemand hält es für notwendig, so etwas wie eine Definition dafür zu geben. "Normalität" wird als Sprechblase, als "Plastikwort", als "leerer Signifikant" benutzt, den jede und jeder nach eigenen Vorstellungen füllen kann.

Blick auf die Kurven

Vermutlich die meisten wollen ihre "alte" Normalität im Sinne ihrer Alltagsroutinen vor Corona zurück, aber man sagt ihnen, sie sollten sich auf eine "neue Normalität" ("new normal", "neues Normal") einstellen. Woran aber erkennt man eigentlich "Normalität"? Wer wird wann bestimmen: Jetzt ist alles wieder normal, und wer wird das glauben?

Da kommt die zweite Konstante der Krise ins Spiel: die "Kurvenlandschaft". Es ist ganz einfach: Mögen die Instanzen noch so verschieden sein wie Krankenhausbetten und Skipisten – die Medien zeigen uns eine statistische Kurve, und diese Kurve weckt Vertrauen, weil sie von wissenschaftlichen Experten aufgrund erhobener Daten fabriziert worden ist.

Also blicken wir täglich auf epidemiologische und andere Kurven: Neuinfektionen, Inzidenzen, Erkrankungen, Todesfälle – aber auch Reisende, Übernachtungen, Amazon-Lieferungen. Gestritten wird über die Relevanz und Korrektheit der Daten und der Kurvenverläufe, nicht aber über Kurven überhaupt als Indikatoren von Wahrheit.

Und das Wichtigste: Verlust und Rückgewinn von Normalität wie auch die Notwendigkeit von stark repressiven Maßnahmen zu diesem Zweck sollen an Kurven ablesbar sein: Inzidenz 200 – Lockdown geboten? Übersterblichkeitsbuckel in der Kurve weg – Normalität erreicht?

Kurven-Landschaften

Mehr noch: In den Kurven steckt auch schon so etwas wie die Basis für eine künftige Geschichte der Corona-Krise: Erste und zweite Welle der Kurven, exponentielle Steigungen, Knicks und beruhigende Abflachungen bis zur erhofften Steigung der Immunitätskurve auf nahezu 100 Prozent.

Warum nun aber "Kurvenlandschaft"? Weil es um viele, tausende Kurven geht, die zudem täglich weitergezogen werden: Kurvenfächer nach Ländern und Regionen, vor allem aber Kurven nach Bereichen und Sektoren (Gesundheit, Wirtschaft, Politik und so weiter).

Diese einzelnen Kurven sind gekoppelt, sie bilden insgesamt eine "Landschaft", und es ist diese Landschaft in ihrer Gesamtheit, die ein Mehr oder ein Weniger an Normalität signalisiert.

Die Kurvenlandschaft beruht also auf Kopplungen: Denn auch wenn die Impfung die Epidemiekurven auf null fahren mag, geht es mittlerweile längst um die Kurven der Wirtschaft, und die sind noch viel wichtiger – ohne deren Normalisierung ist die Krise nicht zu Ende. Am 1. September 2020 zeigte Minister Altmaier uns in der ARD-Tagesschau eine Pappe mit einer Kurve: der berühmten V-Kurve eines schnellen Konjunkturaufschwungs nach einem Crash.

Der Wille zur Regulierung

Im Vorgriff lässt sich die These in ein Bild fassen: Da nicht bloß die Zyklen des Gesundheitssystems und der Wirtschaft, sondern die meisten wichtigen Zyklen unserer Gesellschaft statistisch-normalistisch kontrolliert und gemanagt werden, haben wir es mit einer umfassenden normalistischen "Kurvenlandschaft" zu tun, die wie eine riesige Kuppel über dem Alltag der Gesellschaft schwebt und die diesem Alltag das Gefühl garantiert, dass es so, wie es läuft, insgesamt gut läuft und also so weiterlaufen kann.

Dieses Gefühl wird als "Sicherheit" bezeichnet und eben als "Normalität". In der Krise wurde dieses Gefühl nun allerdings geradezu zerschmettert – und jetzt diente die Kurvenlandschaft zur Regulation des drohenden Chaos: Sämtliche notständischen Maßnahmen wurden von Politik und Medien mit Biegungen und Knicken in Kurven begründet.

An dieser Stelle soll kurz das Konzept "Normalismus" umrissen werden. Warum nicht einfach "Normalität"? Weil dieser Begriff nicht bloß in den Medien höchst vage und widersprüchlich verwendet wird: Zuweilen wird "Normalität" mit "Normativität" verwechselt – oft wird sie mit "Alltag" beziehungsweise "Alltäglichkeit" gleichgesetzt.

Spezifikation des "Normalen"

"Normal" ist aber gerade vieles, was normativ tabuisiert ist, und die "Alltage" aller Völker und Zeiten sind total verschieden. Es empfiehlt sich deshalb, moderne Normalitäten in westlichen Ländern seit etwa 1800, die für uns noch heute in wesentlichen Punkten bestimmend sind, systematisch und historisch zu spezifizieren.

Das wurde im Rahmen der Normalismustheorie entwickelt, die eine operative Definition zulässt: Voraussetzung von Normalismus sind verdatete Gesellschaften, und verdatete Gesellschaften sind solche, die sich flächendeckend und routinemäßig statistisch selbst transparent machen und auf dieser Basis "Kurvenlandschaften" entwickeln.

Verdatung ist also die notwendige, aber noch nicht hinreichende Bedingung. Zur Verdatung kommt ein Wille zur Regulierung der Bevölkerung mit dem Ziel ihrer "Normalisierung" hinzu. Das geschieht mittels einer sozusagen idealen Kurvenlandschaft, an die die empirisch vorliegende mit dem Verfahren der Um-Verteilung angeglichen werden soll. Im Kern dieser idealen Kurvenlandschaft liegen zwei Basiskurven: die Normalverteilung im Nebeneinander und das aufwärts schlangenförmige Normalwachstum im Nacheinander, also in der Zeit.

Zwei gegensätzliche Pole

Diese Kurven haben sich in der langen Geschichte des Normalismus aber idealtypisch zwischen zwei gegensätzlichen Polen bewegt: Entweder ist das Normalspektrum eng und damit also das (zweigeteilte) Anormalspektrum breit, was eine in der Mitte steile Normalverteilung mit breit auslaufenden Seitenästen ergibt – oder umgekehrt.

Der erste Idealtyp heißt Protonormalismus (also erster oder ursprünglicher Normalismus), weil er insgesamt bis etwa 1945 dominierte, der zweite flexibler Normalismus, und dieser herrscht insgesamt seitdem im "reichen Westen".

Gerade auch der sogenannte Sozialstaat funktioniert flexibel-normalistisch. Wir kennen das von der Kurve des Einkommens beziehungsweise Lebensstandards oder auch aus der Politik. Der Grad an Normalität nimmt in Richtung beider Extreme (oben/unten, rechts/links) ab. Mathematisch ist die Kurve stetig – plausiblerweise aber hört die Normalität in einem bestimmten Abstand von der Mitte auf. Dort liegen die Normalitätsgrenzen (die bei uns politisch der Verfassungsschutz festlegt) und beginnt die Anormalität.

Das Rückkehr-Paradox

Zum Jahreswechsel 2020/2021, der mit dem Beginn von Massenimpfungen zusammenfällt, scheint die Normalisierung der Krise in Reichweite zu rücken. Damit wird also die "Rückkehr zur Normalität" konkret – zunächst gestückelt: Je "ein Stück Normalität" soll zurückkehren, wenn wir wieder shoppen, Ski fahren oder schließlich ins Stadion gehen können, wobei jedem "Stück" eine normalisierte Teilkurve entspricht. Gleichzeitig zeigt sich aber ein bizarres Paradox, indem die "Rückkehr" zur "neuen Normalität" statt zur alten erfolgen soll.

Dabei zeichnet sich in den Entscheidungseliten eine Spaltung ab: Zwischen "Disruptoren" und Vertretern eines "Muddling-through" (Durchwursteln). "Disruption" nimmt das radikale Herunterfahren einiger Kurven (zum Beispiel des fossil angetriebenen Autos) in Kauf, um ganz auf ein neues exponentielles Wachstum um die Digitalisierung und die erneuerbare Elektroenergie zu setzen.

Damit würde aber die "alte Normalität" gespalten und großenteils abgewickelt. Die Disruptoren wollen das nicht auf Dauer auf Schuldenbasis kompensieren, was dann aber die soziale Normalverteilung extrem verschiefen und tendenziell zerstören muss.

Durchdigitalisierte Gesellschaft

Hier wird es bezüglich der "neuen Normalität" spannend. Verlust der Normalität heißt de facto Notstand, und Notstände sind bisher immer nur protonormalistisch – also autoritär – gemanagt worden (am extremsten in jedem Krieg und in totalitären oder autokratischen Regimen). Ebenso in früheren Pandemien.

Zweifellos haben die Ermächtigungen unter Corona deutlich protonormalistischen Charakter: dominante "Verbote", die teilweise sogar Grundrechte suspendieren – von Versammlungs- und Demonstrationsverboten bis zu Beherbergungs-, Reise-, Böller- und jüngst Skiverboten.

Die normalismustheoretische Betrachtung führt prognostisch zu der Frage, ob eine "neue Normalität", die dominant auf Digitalisierung setzt und die die "alte Normalität" um das fossil betriebene Verkehrswesen schnell abwickeln zu müssen glaubt – ob eine solche "neue Normalität" noch dominant mit dem flexiblen Normalismus reguliert werden kann oder ein Umkippen in die Dominanz einer neuen Spielart von Protonormalismus impliziert.

Das China Xi Jinpings scheint bereits eine Synthese zwischen einer protonormalistischen Notstandsdiktatur auf Dauer und einer voll durchdigitalisierten Gesellschaft erreicht zu haben. Eine solche Situation stellt die Frage, ob es auch transnormalistische Alternativen geben könnte.

Dieses Problem deckt sich mit jenem, was eigentlich genau unter "Nachhaltigkeit" als epochal neuer Basisregel zu verstehen ist. Transnormalistische Nachhaltigkeit müsste, weil sie Nullwachstum akzeptieren und dazu das Instrument der Abschaltung fatal antagonistischer Zyklen einsetzen könnte, sehr viel stärkere Um-Verteilungen riskieren.

Spielart von Nachhaltigkeit

Eine solche Spielart von Nachhaltigkeit könnte sich damit legitimieren, dass auch die radikale Schocknormalisierung mit Abschaltungen (zum Beispiel der sozialen Netze) arbeitet, allerdings mit solchen, die fatale Antagonismen verstärken.

Je mehr aktuelle Entwicklungen in der Corona-Krise sozusagen symptomatisch in Richtung der oben erörterten Spaltung zwischen "neuer" und "alter Normalität" deuten, umso dringlicher werden transnormalistische, das heißt antagonismusaffine Überlegungen und Versuche. Sie sind identisch mit "kleinen" und schließlich auch "großen" Interventionen kulturrevolutionären Typs.

Es scheint, als ob die momentane Massenstimmung großen Unbehagens in der Normalität den drohenden Riss in der schützenden Kurvenlandschaft über unserem Alltag wahrnehmen und fürchten würde: Gibt es keine Rückkehr zur alten Normalität und ist die neue Normalität für große Teile der Massen bedrohlich? Das wäre ein GAU des alten Normalismus – das Zerbrechen des normalistischen Urvertrauens. Es könnte aber auch die Öffnung auf multiple transnormalistische Fluchtlinien werden. (Jürgen Link, 25.4.2021)

Die Zeitschrift "Wespennest" Nr. 180 ist ab Anfang Mai im Buchhandel erhältlich.
Cover: Wespennest