Bergsteiger kennen das Gefühl: Sie haben sich tagelang vorbereitet und stundenlang abgemüht, um endlich die Anhöhe zu erreichen, die so lange über ihnen schwebte. Die letzten Schritte gehen sich fast wie von allein, immerhin ist das Ende in Sicht – nur um, endlich angekommen, gleich den nächsten Anstieg am Horizont zu erspähen.

Bei der Überwindung der Corona-Pandemie könnte die ersehnte Anhöhe im Sommer oder Herbst erreicht sein. Der Gipfel dürfte das aber längst nicht gewesen sein. Denn Covid-19 war vielleicht nicht die letzte Pandemie dieser Art. Sei es durch Mutationen des ursprünglichen Virus oder völlig neue Erreger, denen die Klimakrise den Nährboden bietet – wir stehen möglicherweise vor einer neuen Zeit, die durch globale Krankheiten geprägt ist.

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Foto: Reuters/Yara Nardi

Es ist zu erwarten, dass wir Corona in den Griff bekommen. Die Mehrzahl der internationalen Virologinnen und Virologen vermutet, dass Sars-CoV-2 zu einem endemischen Virus werden wird, ähnlich wie die Grippe oder wie die Masern, vor denen uns vor allem die gute Durchimpfungsrate schützt.

Ebenso wahrscheinlich ist allerdings, dass Covid-19 nicht die letzte Pandemie bleibt, die uns treffen wird. Bereits vergangenes Jahr warnte der Biodiversitätsrat der Vereinten Nationen (IPBES) in einem Bericht, dass Pandemien in Zukunft häufiger auftreten könnten. Gründe dafür seien unter anderem die Abholzung der Wälder, die extensive Landnutzung und der Handel mit Wildtieren. Auch US-Präsident Joe Biden hat kürzlich angekündigt, sein Land für kommende Pandemien besser vorbereiten zu wollen.

Das ganze Gebirge sehen

In der Kommunikationsstrategie hiesiger Politikerinnen und Politiker kommt das allerdings nur selten vor. Sie flüchten sich in den Ausblick, auf die zu sehende Anhöhe. "Wir werden die kommenden Tage abwarten", "Die nächsten Wochen werden entscheidend sein", "Im Sommer wird alles anders".

Wäre es nicht langsam an der Zeit, über Veränderungen zu reden, die weiter greifen, als nur vom aktuellen in den nächsten Lockdown zu rumpeln? Nicht nur den nächsten Anstieg, sondern das ganze Gebirge zu sehen? Wie würde die Zukunft in einer endlosen Pandemie aussehen?

STANDARD-Redakteurinnen und -Redakteure aus den verschiedensten Ressorts beleuchten nun seit über einem Jahr ihr Themengebiet im Schatten der Pandemie. Was denken sie?

Antonia Rauth hat sich in den vergangenen Monaten intensiv mit der Liebe und Beziehungen beschäftigt. "Am besten könnte man Dating während der Corona-Krise mit dem neuen Begriff ‚Apocalypsing‘ beschreiben", sagt sie. So bezeichnet man die überstürzte Ernsthaftigkeit, mit der Beziehungen eingegangen werden, als würde gerade ein Komet auf die Erde zurasen. "Gerade wenn man darüber nachdenkt, dass wir nun öfter in Lockdowns festsitzen, wird dieses Bindungsverhalten stärker. Gerät die Welt ins Wanken, sehnen wir uns nach Geborgenheit und jemandem zum Festhalten."

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Im Falle einer endlosen Pandemie spielt sich Kultur wohl in der virtuellen Realität ab.
Foto: Getty Images

Während in Beziehungen also verstärkt auf feste Partnerschaften gesetzt werden könnte, ortet Selina Thaler, Redakteurin im Karriere-Ressort, bei einer andauernden Pandemie noch mehr Flexibilität in Bezug auf den Arbeitsplatz. "Wer woanders arbeiten kann, wird das auch ausnutzen." Dazu komme ein stärkerer Fokus auf menschliche Qualitäten: "Die Krise beweist, wie wertvoll die Digitalisierung ist. Und obwohl noch einiges aufzuholen ist, zeigt die Pandemie auch, wie wichtig Aspekte wie Führungsqualitäten und Empathievermögen auch virtuell sind."

Wenn sich das Arbeiten verändert, zieht das Wohnen logischerweise mit. Immobilien-Redakteurin Franziska Zoidl vermutet eine Verstärkung des aktuellen Trends, von daheim aus zu arbeiten: "Die Wohnungen müssten dafür größer werden – das kann sich nur niemand leisten. Das bedeutet, dass man das dauerhafte Arbeiten daheim auf wenig Platz unterbringen muss." Leere Erdgeschoßlokale könnten davon profitieren, weil sie beispielsweise zu professionellen Videocallcentern umfunktioniert werden. "Möglicherweise wäre eine endlose Pandemie auch das Aus für gemeinschaftliche Projekte wie Baugruppen, weil das Abstandhalten aufgrund der geteilten Nutzungsbereiche dort nicht so funktioniert wie in einer normalen Wohnung."

In Sachen Mobilität wagt Redakteur Guido Gluschitsch einen für den Klimaschutz betrübenden Ausblick: "Trotz Rückgängen bei den Neuwagenverkäufen stieg der Pkw-Bestand in Österreich im vergangenen Jahr um ein Prozent. Es ist also zu vermuten, dass die Leute sich gebrauchte Autos gekauft haben, um die Öffis aufgrund der Pandemie meiden zu können. Kriegen wir Corona nicht in den Griff, könnte sich diese Entwicklung fortsetzen." Gleichzeitig würde aber auch der Fahrradboom weiterbestehen. "Dazu kommen Roller – wenn noch mehr Verkehr auf den Straßen ist, sind sie ein adäquates Fuhrwerk, um innerhalb der Ballungszentren schnell voranzukommen."

Weniger Jetset, mehr Natur

Auch unser Reiseverhalten würde sich in einer endlosen Pandemie verändern. RONDO-Redakteur Sascha Aumüller verweist auf den Zukunftsforscher Andreas Reiter, der unter anderem auch im STANDARD bereits über die Zukunft des Reisens nachgedacht hat. So würde der Urlaub in der Heimat, begünstigt durch Gutscheine der Regierung, einen Boom erleben. Dazu käme Reduktion: weniger Jetset, mehr Naturverbundenheit. Gleichzeitig würden die Flugnetze ausgedünnt, Billigflüge gebe es nur noch wenige.

Auch der Kulturbetrieb müsste dann einen Wandel durchleben. Kultur-Redakteur Stefan Weiss vermutet eine Flucht in die Virtual Reality: "Der Film Ready Player One zeigt, wie sich eine Gesellschaft aus einer dystopischen Umgebung heraus in die virtuelle Realität begibt. Spaßeshalber gab es aber auch schon Konzerte, wo sich Besucher in Ganzkörperkondome gesteckt haben." Bei Theateraufführungen könnten Streams, unter anderem mit 3D-Brille, eine Option sein.

Das ist nur ein Bruchteil von dem, was sich ändern könnte. Wie sieht es mit Freundesgruppen aus, werden die kleiner, aber stärker verwurzelt? Würde eine endlose Pandemie der Globalisierung einen Strich durch die Rechnung machen? Was würde in einer solchen Zeit überwiegen – die Herausforderung oder die Chance?

Das Ende der Corona-Anhöhe ist in Sicht, das sollte aber nicht zu anstrengenden Freudensprüngen animieren. Wir werden die Kraft für die kommenden Etappen noch brauchen. (Thorben Pollerhof, 26.04.2021)