Auf den neuen Sozialminister wartet viel Arbeit: Ein Jahr nach Ausbruch der Pandemie könnte die Notlage vieler Menschen erst so richtig durchschlagen.

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Einfach Minister zu sein reicht für Wolfgang Mückstein nicht aus. Der Newcomer war kaum als Gesundheitsminister angelobt, da ertönte schon eine erste Mahnung. Mückstein dürfe sich nicht auf die Bekämpfung der Pandemie beschränken, hieß es, sondern müsse auch die im Seuchenjahr verblasste zweite Rolle in seinem Ressort wiederbeleben. "Es braucht einen Sozialminister", fordert etwa die Armutskonferenz: "Nicht irgendwann, sondern jetzt!"

Führt die Corona-Krise, wie Hilfsorganisationen warnen, denn tatsächlich in die soziale Misere? Bisher zeigen Daten ein erstaunlich entspanntes Bild. Laut EU-Kommission sind die verfügbaren Haushaltseinkommen infolge des ersten Lockdowns im Frühling 2020, als die Wirtschaft besonders hart bremsen musste, hierzulande im Schnitt um lediglich ein bis zwei Prozent gesunken.

Das unterste Einkommensfünftel verbuchte in dieser Phase sogar Zuwächse, stellte das Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo) fest. Zu verdanken sei dies staatlichen Stützmaßnahmen: dem Kinderbonus, der aufgestockten Notstandshilfe, dem einmaligen Aufschlag aufs Arbeitslosengeld.

Trügerische Momentaufnahme

Doch diese Momentaufnahme dürfte trügerisch sein. Die sozialen Folgen der Pandemie würden sich erst dann voll abbilden, warnt die Armutsforscherin Karin Heitzmann von der Wirtschaftsuni Wien, wenn die Linderung durch zeitlich begrenzte Nothilfen verpufft sei.

So müssen ab April gestundete Mieten aus dem Vorjahr abbezahlt werden – was nach einer Schonfrist all jene, die ihre Schulden nicht begleichen können, mit Delogierung bedroht. Heitzmann sieht "ganz große Herausforderungen" nahen: "Es wird dramatisch."

Wer nach Krisenverlierern sucht, dem sticht – egal durch welche ideologische Brille – zuallererst eine Gruppe ins Auge: Im Vergleich zur Zeit vor der Pandemie stehen rund 100.000 Menschen mehr ohne Job da, weitere 480.000 sind in Kurzarbeit. Dazu kommen noch viele, die etwa zur Mindestsicherung in geringfügiger Beschäftigung ein bisschen was dazu verdient haben. Auch diese Minijobs sind oft rasch weggebrochen.

Es sei das Gebot der Stunde, die Betroffenen wieder am regulären Arbeitsmarkt unterzubringen, sagt Hanno Lorenz vom wirtschaftsliberalen Thinktank Agenda Austria – und zwar erfolgreicher, als dies nach der Finanz- und Wirtschaftskrise gelungen sei. Er empfiehlt Investitionen in Qualifikationsprogramme, um Jobsuchende zurück in die Arbeitswelt zu führen, sowie den Ausbau der Förderungen für jene Unternehmen, die Arbeitslose einstellen.

Umstrittene Höhe des Arbeitslosengeldes

À la longue plädiert Lorenz jedoch auch nach dem Vorbild vieler EU-Staaten für mehr finanziellen Druck auf die Jobsucher: Während das heimische Arbeitslosengeld vergleichsweise knapp bemessen ist, in der Höhe dafür aber relativ stabil bleibt, kürzen andere Länder die Leistung mit der Bezugsdauer stark zusammen. Dies steigere die Motivation, sich eine Arbeit zu suchen, glaubt der Ökonom, schränkt aber ein: Sinnvoll sei dies erst in drei bis fünf Jahren, wenn sich die Wirtschaft regeneriert haben sollte.

Kurzfristig ertönt allerdings vielfach der Ruf nach dem Gegenteil. Das niedrige Niveau des Arbeitslosengeldes, das in der Regel 55 Prozent des Nettolohns beträgt, sei eine der großen Ursachen von Armut, sagt die WU-Forscherin Heitzmann. Die Hälfte aller Menschen, die sechs bis elf Monate arbeitslos sind, gilt als von Armut und Ausgrenzung bedroht, ab einer Dauer von zwölf Monaten erhöht sich das Risiko auf 72 Prozent.

Angesichts der fehlenden Jobs lasse sich nicht behaupten, dass dieses Schicksal selbst gewählt sei, argumentiert Heitzmann und spricht sich analog zu Gewerkschaft, Caritas & Co. für eine generelle Erhöhung des Arbeitslosengeldes aus. Schließlich drohe eine lange Durststrecke: Laut Prognose soll die Zahl der Leidtragenden erst 2023 auf das Vorkrisenniveau sinken.

Das Netz enger knüpfen

Gar keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld haben viele Selbstständige, denen die Lockdowns das Geschäft wegbrechen ließen; die bestehende Möglichkeit der freiwilligen Versicherung wird wenig genützt. Eine Pflichtversicherung wie bei den Arbeitnehmern könnte die Lücke schließen, stieß bei den Standesvertretern in der Vergangenheit aber auf wenig Gegenliebe. Schließlich sei die Abgabenlast für Unternehmer auch so schon zu hoch.

Enger knüpfen ließe sich auch das unterste soziale Netz. Als schikanös gilt Kritikern die neue Sozialhilfe, wie sie die Bundesländer nach Vorgabe der einstigen türkis-blauen Regierung umsetzen. Neominister Mückstein dürfte das durchaus ähnlich sehen. Obwohl im türkis-grünen Koalitionspakt nichts davon steht, kündigte er eine Reform an.

Besorgniserregendes Bild: Schon vor der Krise sind Familien in der Einkommensverteilung zurückgefallen.
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Familien sind abgerutscht

Was bei all dem zu bedenken ist: Sind Eltern in Not, schlägt das auf die Kinder durch. Schon vor der Krise habe sich da "ein besorgniserregendes Bild" gezeigt, sagt Wifo-Forscherin Silvia Rocha-Akis: "Haushalte mit Kindern sind in der Einkommensverteilung sowohl vor als auch nach der Umverteilung durch den Staat nach unten abgerutscht."

Ein Mittel gegen Armut seien die klassischen Familienleistungen, sagt Rocha-Akis, die Familienbeihilfe sollte deshalb verlässlich Jahr für Jahr an die Preissteigerung angepasst werden. Dass dies in der Vergangenheit nicht geschah, zeigt ein Kapitel des neuen Familienberichts, das Familienministerin Susanne Raab (ÖVP) bei ihrer auf Erfolgsbilanz getrimmten Präsentation überging. Wie Rocha-Akis mit Kolleginnen berechnet hat, ist der Anteil der familienpolitischen Leistungen am Bruttogesamteinkommen der unteren Haushalte über Jahre hinweg gesunken.

In der Frage offenbart sich ein Dilemma. Wien etwa gibt bei der Platzvergabe jenen Eltern Vorrang, die wegen Berufstätigkeit Bedarf haben. Einerseits unterstützt dies Frauen, die ihr eigenes Geld verdienen und sich so selbst gegen Armut wappnen. Anderseits aber fallen Kinder, der Mütter und Väter aus irgendwelchen Gründen nicht arbeiten gehen, um die frühkindliche Förderung um – was in schlechteren Chancen für die Zukunft münden kann und die Vererbung der Armut von einer Generation auf die nächste fördert.

Armutskarriere von klein auf

Ein wichtiger Baustein sei auch der Ausbau der Kinderbetreuung, um Müttern eine Berufskarriere zu ermöglichen, fügt die Expertin an. Doch dabei sollte überprüft werden, ob einkommensschwache Menschen – etwa wegen Sprachbarrieren oder mangelnder Information – nicht einen Nachteil beim Zugang haben. Denn die Daten zeigen: Je höher der Verdienst, desto eher nehmen Familien Krippen und Kindergärten in Anspruch.

Schon bei den Jüngsten sollte eine flächendeckende "Präventionskette" ansetzen, sagt Armutskonferenz-Sprecher Martin Schenk. Das beginne etwa bei kostenlosen Hebammen für überforderte Eltern und reiche über ein zweites verpflichtendes Kindergartenjahr bis hin zur gezielten Unterstützung von sogenannten Brennpunktschulen, die sich anders als im türkis-grünen Pilotprojekt nicht nur auf 100 Standorte beschränken dürfe.

Überdies müsse gerade angesichts der vielen von der Corona-Tristesse ausgelösten psychischen Erkrankungen endlich ein ausreichendes Angebot an leistbarer Therapie geschaffen werden, fordert Schenk. Laut Schätzungen erhalten 50.000 bis 70.000 Kinder nicht die für sie notwendige Behandlung. Viel stehe auf dem Spiel, gerade nach der Pandemie, warnt der Aktivist: Werden Familien mit ihren Problemen alleingelassen, "wird die Basis für Armut von klein auf gelegt". (Gerald John, 24.4.2021)