In Europa scheint das Ende der Pandemie fast überall noch in weiter Ferne zu liegen. Doch anderswo suchen – und finden – die Menschen schon wieder einen Weg zurück in die Normalität. m

Aufbruch unseres Korrespondenten zur lang ersehnten Reise quer durch Australien.
Foto: Urs Wälterlin

Australien: Reise ins Outback und Besuch im Restaurant

Urs Wälterlin aus Canberra

Der Campinganhänger ist gepackt, der Ölstand des Autos geprüft, der Keilriemen ersetzt, die Federung getestet. Und das Bier ist auch geladen. Bald geht’s los. Eine Reise ins Zentrum des Roten Kontinents. 7000 Kilometer quer durch Australien. Der Reporter kann endlich wieder Reporter sein – vor Ort recherchieren, Stimmen, Stimmung, Storys einholen.

Mehr als ein Jahr lang war das auch im Covid-Vorzeigeland Australien nicht möglich. Obwohl die Regierung dank Grenzschließung und Quarantäne die Einreise möglicher Covid-Infizierter praktisch stoppen konnte, gab es immer wieder lokale Ausbrüche.

Die Reaktion der einzelnen Bundesstaaten war ebenso drastisch wie effektiv: Lockdowns, Ausgangssperren, begrenzte Einkaufsmöglichkeiten.

Und sie schlossen ihre normalerweise gar nicht existierenden Grenzen: Diese wurden zeitweise so gut bewacht wie das Niemandsland zwischen Nord- und Südkorea – aber ohne Propaganda-Dauerbeschallung.

Nervende Grenzziehungen

Das heißt aber nicht, dass einem diese Grenzen nicht auf den Nerv gegangen wären. Tausende von Menschen blieben buchstäblich von einer Minute auf die andere auf der falschen Seite des gelben Strichs sitzen. Tagelang. Wochenlang. Das war der Grund, weshalb die Reportagereise ins Outback über ein Jahr lang warten musste. Die Gefahr des Liegenbleibens am Straßenrand war einfach zu groß.

Jetzt aber nicht mehr. Die Disziplin der Australier, die Akzeptanz der Maßnahmen – allen voran das sehr wirksame Contact-Tracing – und das fast komplette Fehlen von "Covidioten", die das Tragen von Masken und das Desinfizieren ihrer Hände als Frühzeichen einer kommenden Diktatur interpretieren – all das hat sich ausgezahlt.

An den meisten Orten lebt es sich im Alltag fast wie vor Ausbruch der Pandemie. Man trifft sich mit Freunden zum Kaffee, man geht ins Kino. Einzig die empfohlenen 1,5 Meter Abstand und das vorgeschriebene Einloggen mit einer Covid-App beim Besuch eines Restaurants und natürlich die geschlossenen Landesgrenzen erinnern daran, dass auch Australien noch weit entfernt ist vom Normalzustand.

Warten auf den Piks

Premierminister Scott Morrison hat es verschlafen, genügend Impfstoff für das Volk zu sichern. Millionen Australier warten daher sehnlichst auf die erste Nadel. So kommt es immer mal wieder zu kleinen Episoden von Panik.

Wie eben, als Gary kam. Er wird während der Reise auf unser Haus aufpassen. Er habe in den letzten Tagen Husten gehabt, erzählt er. Als er wieder weg ist, kommt Christine, Krankenschwester und Ehefrau, mit der Desinfektionsflasche angelaufen. "Du hast ihm wirklich die Hand geschüttelt, ja bist du denn verrückt?", rügt sie mich. Und spritzt mir das Zeugs auf die Hände. In doppelter Dosis.

Bild nicht mehr verfügbar.

Ob in Schanghai, Peking oder Hangzhou (Bild): In China sind die Straßen und Plätze wieder voll.
Foto: AP Photo/Mark Schiefelbein

China: In Schanghai wird auf Dachterrassen wieder Party gemacht

Philipp Mattheis aus Schanghai

Es fühlt sich doch ein wenig falsch an: Da steht man in einer Menschenmenge auf einer Dachterrasse, hinter dem DJ-Pult die atem beraubende Skyline von Schanghai. Die Leute tanzen, lachen, trinken, der Hedonismus der 23-Millionen-Metropole läuft auf Hochtouren. Ein Gedanke an die Freunde daheim, die sich seit Monaten nichts mehr wünschen als Normalität, und dann noch ein Gedanke, ob man die Bilder der Party auf Instagram hochladen soll ... doch die Zweifel verflüchtigen sich bald.

Dass im Rest der Welt noch eine Pandemie wütet, vergisst man schnell, nachdem man selbst zwei, drei Wochen strikte Quarantäne in einem Hotelzimmer hinter sich gebracht hat. Seit vergangenem Frühjahr läuft das Leben in China wieder weitgehend normal vor sich hin.

Seit Ende März 2020 hat das Land seine Grenzen geschlossen. Wer überhaupt noch eine Einreise-Erlaubnis erhält, muss sich der wohl strengsten Quarantäne weltweit unterziehen. So – und mit massenhaften Tests – hat die kommunistische Partei die Pandemie, die in Wuhan ihren Ursprung nahm, unter Kontrolle gebracht. Zumindest wenn man den offiziellen Zahlen glaubt.

Restaurants, Cafés, Shoppingmalls und Kinos – alles hat geöffnet. Nur bei Inlandsreisen gibt es hin und wieder lokale Beschränkungen. Dann müssen Reisende wieder ihren QR-Code am Handy scannen lassen, der nachweist, dass sie sich nicht in einem Risikogebiet aufgehalten haben. Für Ärger sorgt das kaum: Die Chinesen wurden in den vergangenen Jahren schrittweise an die totale Überwachung gewöhnt.

Auch in Wuhan merkt man nichts mehr von der Tragödie. In den Nudel-Restaurants geht es zu wie eh und je. Die Menschen sitzen dicht gedrängt, nicht alles entspricht mitteleuropäischen Hygiene-Standards. Doch auch das ist Normalität.

Bewunderung und Skepsis

Die chinesische Führung hat ihr Ziel erreicht. Die meisten Chinesen dürften es der Partei hoch anrechnen, dass sie das Land relativ unbeschadet durch die Pandemie geführt hat. Die staatliche Propaganda, die immer wieder auf die Pandemie und das "Chaos im Ausland" zeigt, wirkt. "Wenn ich die Bilder aus der ganzen Welt sehe, denke ich mir: China hat das sehr gut gemacht", sagt die 22-jährige Studentin Jasmin Du. "China ist durch die Pandemie stärker geworden, weil Regierung und Volk zusammenhielten." Du studiert eigentlich in Kanada, wegen der Pandemie kehrte sie früher in ihre Heimat zurück.

Doch nicht alle Chinesen sind so gut auf die Regierung zu sprechen. Ein Unternehmensberater aus Schanghai will sich nicht impfen lassen: "Ich traue dem Sinovac-Produkt nicht. Trotzdem bin ich natürlich froh, dass die Ausgangssperren und Einschränkungen nur kurz anhielten." Volles Vertrauen aber habe er in die Regierung nicht.

Chillen auf der Strandpromenade von Tel Aviv: Israel ist so gut wie "back to normal".
Foto: menahem kahana / AFP

Israel: Statt Bücher bloß zu bestellen und abzuholen darf man jetzt im Laden schmökern

Maria Sterkl aus Jerusalem

Die Tür zum Buchladen öffnet sich nur einen Spalt weit. Ein Gesicht mit Rahmenbrille erscheint darin. "Wann sperrt ihr zu?", fragt das Gesicht, es sagt nicht Hallo. "Eine Stunde noch", sagt Moshe. Auch er sagt nicht Hallo. Kurze Sätze sind beliebt hier im Viertel, mitten in Jerusalem. Manche finden das unfreundlich, wir nennen es intim.

Moshe nimmt das oberste Buch von einem Stapel, sieht es kurz an und legt es neben den Stapel. So macht er es mit jedem Buch, bis ein neuer Stapel entsteht. Ein Buch trägt den Titel Wien – Architektur und Kultur. Geht es nach diesem Buch, ist Wiens Kulturszene schon seit 50 Jahren tot. Gedruckt wurde es 1972, vor 49 Jahren.

Alle haben die Büchergalerie in der Schatzstraße vermisst, als Lockdown war. Und das war lange in diesem Land, das heute als Garten Eden des Impfens gilt. Supermärkte und Handyshops durften aufsperren, Buchläden hatten zu. Im harten Lockdown ganz, im Lockdown light halb: Dann durfte man zur Büchergalerie gehen und Vorbestelltes abholen – durch den Türspalt.

Es scheint, als habe die Frau mit der Rahmenbrille diesen Brauch beibehalten. Oder vielleicht ist sie bloß ohne Maske unterwegs und traut sich deshalb nicht ins Geschäft. Dabei sitzt Moshe ja auch ohne Maske hier. Er ist über 60, aber unbesorgt – nicht ungeimpft. Der junge Kollege neben ihm ist auch bereits geimpft, trägt aber eine schwarze Stoffmaske. Sie ist so groß, dass man nicht weiß, ob er unrasiert ist oder nicht.

Ob die Leute im Lockdown mehr online bestellten als davor? "Es geht immer auf und ab", sagt Moshe, Meister der kurzen Sätze. Über 500.000 Bücher gibt es hier offiziell, die vielen unausgeräumten Schachteln deuten auf eine hohe Dunkelziffer. Bücher online zu kaufen ist gut, wenn man weiß, was man will – und weiß man es nicht, dann flüstert es der Algorithmus. In der Büchergalerie hingegen findet man Dinge, die man nie gesucht hätte und nie wieder suchen wird. Vor allem aber auch nicht finden würde, weil sie längst vergriffen sind und dieses eine Exemplar weltweit das allerletzte ist. So stellt man es sich zumindest vor und fühlt sich dabei gut.

Glückliche Kunden

In der deutschsprachigen Abteilung findet man Werfel, Kafka, Mann. Hauptsache Männer. Auch Dinge, die im Lockdown nützlich gewesen wären: Heiterkeit kennt keine Grenzen. Humor der Welt, gesammelt von Erich Kästner. Texte aus Indien, der Türkei, Dänemark. Aber nicht aus Österreich.

Ein Kunde sucht "Bücher für Kinder, von Terry Jackson oder so". Wer weiß, wie lange er diese Suchbegriffe schon auf Amazon eingegeben hat, bis er dann doch hierher kam und vom Verkäufer zu Terry Pratchett geleitet wird. Der Kunde ist glücklich und zahlt – wie immer ein bisschen zu viel, aber dafür gibt es zum Buch ein schönes Lesezeichen und ein knappes "Wiedersehen" von Moshe. Ein Wiedersehen wird es geben – nicht nur durch den Spalt.

In England darf man wieder zur höheren Ehre Gottes singen. Zwar nicht in der Kirche, aber immerhin im Garten.
Foto: Sebastian Borger

Großbritannien: Chormusik klingt im schattigen Garten statt in der Barockkirche

Sebastian Borger aus London

Den Grundton des F-Dur-Akkords liefert die App, und schon erklingt in meinem Nord-Londoner Reihen haus-Garten vierstimmig If Ye Love Me des Renaissance-Komponisten Thomas Tallis. Beschattet von einem Goldregen singt das Sextett von Jesu Verheißung des Heiligen Geistes: "Liebt ihr mich, so werdet ihr meine Gebote halten."

Von Liebe war keine Rede, als Premier Boris Johnson die Engländer im Jänner in den Lockdown zwang; vielmehr vom drohenden Kollaps des Gesundheitssystems und von hohen Strafen für Verächter der Regierungsgebote. Monatelang war ein Treffen im Freien mit nur einer Person außerhalb des eigenen Haushalts erlaubt.

Seit knapp vier Wochen dürfen sich sechs Menschen in einem Park oder Garten treffen. Also verabredeten sich sechs Mitglieder des Collegium Musicum (CML) für einen Gesang "al fresco" – wie schon im vergangenen Sommer und Herbst, als die Proben nicht in der Kirche stattfinden konnten.

Wenn er gelingt, hält Kammerchorgesang die Balance zwischen selbstbewusster Tonführung und dem Willen zur Einordnung – zunächst in die drei, vier anderen Stimmen der eigenen Tonlage, schließlich in den Gesamtklang aller Singenden. Und wie der Name schon sagt: Normalerweise proben wir nahe beisammenstehend in einem geschlossenen Raum. Das alles warf die Pandemie über den Haufen. Covid bescherte vielen Sängern zunächst Verzweiflung, dann Demut: So schlecht ist meine Stimme, wenn ich allein auf mich gestellt bin! Schweiß und Tränen wurden vergossen, wenn der Chorleiter zur Online-Aufnahme bat.

Dann entdeckten wir die Freiheit des Singens im Freien. Auf sich allein gestellt, treten stimmliche Schwächen krass zutage; zudem stören in der falschen Tonart singende Vögel, plärrende Kinder, ratternde Züge. "Lasst uns glimpflich miteinander umgehen", pflegt eine Freundin zu sagen, ehe wir Bachs Choräle, Mozarts Ave Verum oder Arthur Sullivans wunderbar schmalziges The Long Day Closes anstimmen. Die Nachbarn schweigen dezent dazu, gelegentlich gibt es sogar Beifall.

Zuerst Chor- und dann Weinprobe

Die neue Sechser-Regel hat auch schon rustikale Abendessen und Weinproben am Lagerfeuer beschert. Seit vor zwölf Tagen Cafés, Restaurants und Pubs ihre Außenbereiche öffnen durften, gibt es zusätzliche Vergnügungsmöglichkeiten. Gleich am ersten Tag verzehrte ich vor dem österreichischen Kaffeehaus Kipferl frierend eine herrliche Esterházy-Torte. Im Biergarten des Ferry Boat Inn dilettierte ich so lange mit der App herum, bis die Kellnerin mir das Pint auch ohne die zwingend vorgeschriebene elektronische Bestellung brachte.

Nichts aber kommt der Freude am gemeinsamen Musizieren, einstweilen noch im Freien, nahe. Und nun ein As-Dur -Akkord, bitte ...

Geselliges Leben gehört in Houston, Texas, schon wieder zum alltäglichen Programm.
Foto: Francois PICARD / AFP

USA: Im Biergarten einen auf das Ende der Pandemie heben

Frank Herrmann aus Philadelphia

Einen Kastanienbaum gibt es in dem kleinen Biergarten zwar nicht, aber immerhin sind wieder Gäste willkommen. Die werden allerdings kontrolliert: Fieber? Führerschein? Name, E-Mail-Adresse, Handynummer? Alles für den Fall, dass nachverfolgt werden muss. Die Aufenthaltsdauer ist strikt begrenzt: 90 Minuten pro Person. Was daran liegt, dass sich der "Pop Up Garden" hoher Beliebtheit erfreut und, so erklären sie einem am Tor, jeder eine Chance bekommen soll.

Aber sonst? Ein Biergarten wie schon vor der Pandemie: die Stimmung ausgelassen, alle Plätze besetzt. Philadelphia, kann man sagen, ist zurückgekehrt zur Normalität. Jedenfalls fast – wenn man davon absieht, dass an den Schaufenstern wirklich aller Geschäfte nach wie vor Zettel mit der Aufschrift "No Mask – No Entry" kleben.

Es ist ja, meist in Berichten aus Texas oder Florida, oft von der mangelnden Disziplin der US-Amerikaner die Rede, denen nichts über die eigene Freiheit geht und die schon aus Prinzip missachten, was die Behörden wollen. In Washington, New York und eben auch in Philadelphia habe ich das anders erlebt. Mag sein, dass es Reporterpech ist: Mir sind sie einfach noch nicht über den Weg gelaufen, die angeblich so typischen stolzen Individualisten, die sämtliche Regeln in den Wind schlagen. Es gibt sie, ganz sicher. Doch in den Metropolen der Ostküste ist es, zurückhaltend formuliert, nicht der Typus, der das Alltagsleben prägt.

Fehlendes Misstrauen

Ein anderer Wesenszug bewahrheitet sich dagegen täglich aufs Neue: die Freundlichkeit. Ja, meistens oberflächlich. Ein netter Umgangston, der nichts weiter besagt. Ein Lächeln, in das man nichts hinein interpretieren sollte. Aber es hilft, gerade in Zeiten der Epidemie. Ich denke an die Apothekerin, die mich begrüßte, als freute sie sich über ein Wiedersehen mit einem alten Bekannten, als ich eine Filiale der Drogeriekette CVS betrat.

Ihre Aufgabe war es, zu prüfen, ob mit meinem Impftermin alles seine Richtigkeit hatte. Die erfüllte sie mit einer Begeisterung, die allein schon etwas über die Aufbruchsstimmung sagt, die seit ein paar Wochen herrscht. Die Ärztin, die mir die Nadel in den Oberarm pikste, tat dies zwischen zwei Regalreihen, die mithilfe bettlakengroßer Tücher vom Rest des Ladens abgetrennt waren. Warum kompliziert machen, was auch einfach geht?

Das Problem, das auf mich zukommen könnte, ist ein verwaltungstechnisches: bei der nächsten Heimreise. In Deutschland will man einen Stempel auf dem weißen Kärtchen sehen, das die Impfung in den USA bestätigt. Die US-Amerikaner handhaben das anders, was vielleicht daran liegt, dass sie nicht grundsätzlich jedem misstrauen. Was auf den Karten – handschriftlich – vermerkt ist, sind Name, Geburtsdatum, Impfstoff, Chargennummer, Impfdatum und Impfstelle. Nicht gestempelt, nicht unterschrieben. Wenn ich am Montag zur zweiten Impfung bei CVS aufkreuze, muss ich die Stempelfrage klären. (Urs Wälterlin, Philipp Mattheis, Maria Sterkl, Sebastian Borger, Frank Herrmann, 25.4.2021)