Im Gastkommentar widmet sich der Sprachphilosoph und Politikwissenschafter Paul Sailer-Wlasits dem pandemischen Nachspiel zwischen zermürbendem Dauerzustand und einer möglichen Rückkehr von Opulenz.

Wie finden wir raus aus der Krise?
Foto: Imago Images / Jan Huebner

Österreich als Rechtsstaat funktioniert. Österreich als Präventionsstaat hat bis dato in erster Linie Glück gehabt.

Wer soll das bezahlen? So lautet ein populärer Schlagertitel aus der Nachkriegszeit. Doch wie alle Schlager, Horoskope oder Bauernregeln lieferte auch er keinerlei Antwort. Die Frage ist jedoch wieder aktuell: Wie soll das angekündigte, weit über 60 Milliarden Euro schwere Hilfspaket der Regierung refinanziert werden? Die Republik hat mit 50- und 100-jährigen Staatsanleihen hinlänglich Erfahrung. Spitz formuliert, erschiene daher die Begebung einer Anleihe mit 150-jähriger Laufzeit gar nicht abwegig. Die Verantwortung sieben Generationen weit in die Zukunft zu delegieren entspräche ohnehin dem Bild, welches das Politestablishment international von sich vermittelt: Politische Verantwortung und deren Konsequenzen zu tragen scheint längst obsolet geworden zu sein.

Steuern und Kürzungen

Wer trägt die Last? Zu befürchten ist, dass höhere Steuern erlassen und Kürzungen im Sozialbereich vorgenommen werden, sobald Corona vom Notfall zum beherrschbaren Dauerzustand geworden sein wird. Zu erwarten ist ferner, dass es erneut primär Frauen, vulnerable Gruppen und schlecht Qualifizierte treffen wird. Gerade jetzt wäre ein energiegeladenes, zukunftsorientiertes Bildungssystem dringend vonnöten. Keines, in dem kaum mehr Wissen, sondern primär nur Kenntnisse hinsichtlich von Fertigkeiten vermittelt werden.

Anstelle von politischen Strategien für eine umfassende Verwaltungsreform, für die strauchelnde Wirtschaft, für Bildung und Kultur scheinen vorrangig Social-Media-Konzepte für die positive Darstellung von Wirtschaft, Bildung und Kultur erarbeitet worden zu sein.

Digitale Exklusion

Wie im Sport werden unterdessen auch im realen Leben die Limits kontinuierlich höher. Immer mehr Menschen werden sozial abgehängt, schaffen die Zugangskriterien für sich oder ihre Nachkommen kaum oder gar nicht mehr. Der Beginn des Teufelskreises ist bereits an Schulen, Universitäten und am Arbeitsmarkt sichtbar: Die digitale Exklusion vollzieht sich lautlos.

Dass eine direkte Korrelation zwischen dem Einkommen und der Gesundheit von Menschen besteht, ist hinlänglich erforscht. Dennoch werden künftige Covid-Studien auf erschreckende Weise erneut zeigen, wie unendlich weit das Einkommensgefälle zwischen Industriestaaten und Entwicklungsländern bereits auseinanderklafft; wie sehr Theorie und Praxis der Entwicklungspolitik voneinander abweichen. Die Fratze neoliberaler Gier wurde im internationalen Beschaffungskampf um Impfstoffe erneut und auf hässlichste Weise sichtbar.

"Der Mensch ist und bleibt ein Zoon politikón."

Doch auch im Inland wird sich Corona realwirtschaftlich niederschlagen. Viele, die jetzt gerade noch knapp vor der Armutsgrenze zum Stehen kamen, werden durch die Pandemie von der Klippe gestoßen. Es bleibt zu hoffen, dass zukünftig nicht allzu viele ermattete, entsolidarisierte Menschen diese zunehmende vertikale Segregation bloß achselzuckend zur Kenntnis nehmen werden.

Trotz Homeoffice und Distance-Learning, der Mensch ist und bleibt, wie Aristoteles ihn nannte, ein Zoon politikón, ein gemeinschaftliches Wesen, keine Corona-isolierte Käfigexistenz oder ein virtuelles Gesicht in einem zu kleinen Bildschirm.

Auch psychische Konsequenzen aufgrund des verordneten Wirtschaftseinbruchs entstehen nicht plötzlich in einer Gesellschaft, jedoch vielfach zwingend. Höchste Zeit, Präventivmaßnahmen zu planen und einzuleiten. Nicht erst, wenn die Prozentzuwächse posttraumatischer Belastungsstörungen zweistellig werden, zur Abnahme von Lebens- und Arbeitszufriedenheit und damit zu geringerer volkswirtschaftlicher Gesamtleistung führen.

Die Rückkehr der Opulenz?

Die Aufeinanderfolge von sieben fetten und sieben mageren Jahren ist eine hübsche altägyptische, im Alten Testament dokumentierte Traumdeutung. Nach Corona könnten Teile dieser Traumerzählung wahr werden. Einerseits, indem Wellen von hemmungslosem Konsumismus und Socializing als Reaktionen auf verordnete Lockdowns folgen. Andererseits erschienen auch Formen des individuellen, autonomen Rückzugs samt weitgehendem Beibehalten virtueller Abläufe denkbar. Auch eine neuartige, ungekannte und auf das Wesentliche reduzierte Fülle, eine minimalistische Opulenz könnte zur Zielsetzung vieler Menschen werden, angesiedelt zwischen Hedonismus und Qualitätsbewusstsein.

Anagnorisis nannte man im griechischen Drama jenen Punkt, an dem das Erkennen beziehungsweise Wiedererkennen einsetzte, wonach die Handlung umschlug und eine andere Wendung nahm. Es könnte sein, dass Corona aufgrund des Innehaltenmüssens zu Umdenken führt. Dann wäre die Covid-Krise ein positiver gesamtgesellschaftlicher Katalysator: für bewusstere Umweltpolitik, für verstärktes gesellschaftliches Miteinander, vielleicht sogar für weniger Nepotismus und mehr Ethik in der Politik. (Paul Sailer-Wlasits, 24.4.2021)