Der Immunologe und Virologe Andreas Bergthaler plädiert dafür, schon jetzt "proaktiv" über die Zeit "nach" der Pandemie nachzudenken, als Gesellschaft und als Staat. Die Wissenschaft müsse in Zukunft stärker und besser eingebunden werden.

Foto: APA/Schlager

Stellen Sie sich vor, die Corona-Pandemie wäre über die Welt gekommen und es hätte keine Wissenschafterinnen und Wissenschafter gegeben, die sich dem Virus in den Weg stellen und versuchen, ihm beizukommen durch die Entschlüsselung seines Genoms oder die Entwicklung von Test und Impfstoffen? Eine albtraumhafte, massenhaft tödliche Vorstellung.

Stresstest für den Staat

Vermutlich nie zuvor hat sich im Alltag so sehr gezeigt, was Forschung leisten kann, wie sehr wir auf sie angewiesen sind. Plötzlich gingen Wissenschafter in den Regierungssitzen ein und aus. Waren gefragte Berater in der Not. "Die Behörden stehen an der Wand, denen helfen wir einfach", schildert Andreas Bergthaler die ersten Wochen der Pandemie. Der Virologe und Immunologe hat mit einem großen Team am CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Akademie der Wissenschaften in Österreich das erste Virusgenom am 4. April 2020 sequenziert.

Aus Eigeninitiative und mit Unterstützung der Institutsdirektion wurden die Forscher aktiv und bekamen einen Einblick, wo überall "Hürden" lauern: "Der Staat ist einem Stresstest unterworfen, aber die Strukturen dafür sind nur bedingt vorhanden", sagt Bergthaler zum STANDARD. So hat es etwa bis September gedauert, um zwischen Wissenschafts- und Gesundheitsressort zu klären, wer denn die bis dahin vom CeMM querfinanzierten Sequenzierungen zahlt.

Getrennte "Datensilos" und fehlende Bindeglieder zur Verwaltung

Dort wurde derweil unbeirrt weitergeforscht. "Viele tolle wissenschaftliche Initiativen finden nicht wegen, sondern trotzdem statt", sagt Bergthaler. Er vermisst "funktionierende Strukturen als Bindeglied zwischen Wissenschaft und Verwaltung", denn es brauche dringend eine "stärkere Einbindung der Wissenschaft für evidenzbasierte Entscheidungen in Politik und Verwaltung". Neben einer Forschungsoffensive in allen Disziplinen und einer Digitalisierungsstrategie für das Problem der getrennt befüllten und verteidigten "Datensilos", wie Bergthaler sie nennt, erfordere das eine "Verbesserung föderalistischer Entscheidungsprozesse".

Er hofft auf einen größeren Lerneffekt aus der Pandemie: "Im Jahr 2030 wird die Beurteilung unseres Pandemiemanagements neben dem unmittelbaren Umgang mit dem Virus v. a. die gezogenen Lehren für die Zukunft berücksichtigen." Der politische Horizont reicht meist nur bis zur nächsten Wahl. Daher schlägt Bergthaler einen "Österreich-Konvent 2.0" vor, der jetzt "proaktiv" über den Horizont hinausdenkt und den "teuer erkauften Erfahrungsschatz" nutzt: "Die zahlreichen Schäden der Pandemie würden damit zwar nicht neutralisiert, aber wir wären zukünftig besser aufgestellt." (Lisa Nimmervoll, 23.4.2021)