Als Kind nimmt man bedeutende Menschen und geistige Kapazunder ganz anders wahr als als Erwachsener. Nicht die großen Theorien und gescheiten Aussagen bleiben einem im Gedächtnis, sondern der Mensch in seiner reinen Wesensart. War dieser angenehm oder unangenehm, war er freundlich oder angsteinflößend und wie war das uninterpretierte und unanalysierte Verhalten. Kurz gesagt, hat die Person einen positiven oder negativen Eindruck hinterlassen und wie und in welcher Form war die Interaktion mit dieser? Analog verhält es sich mit dem mentalen Engramm von Erwin Ringel aus meiner Kindheit, welches sich in dessen individueller Genese eingeprägt hat. Jener hätte am 27. April seinen 100. Geburtstag gefeiert.

Ringel, der nach eigenen Worten Österreich geliebt hat, bezeichnete es jedoch ebenso als Brutstätte der Neurosen. Wahrscheinlich hat Sigmund Freud nicht ohne Grund viele Erkenntnisse für seine große Neurosenlehre aus seiner praktischen Arbeit in Wien gezogen. Ringel, der Individualpsychologe, sah den österreichischen Durchschnittsbürger als aggressiven Untertanen, der “nach oben buckelt und nach unten tritt“. Ein Wesenszug, der vielleicht in Phasen des Verlaufes der Coronakrise doch bei so manchem an die Oberfläche des psychosozialen Habitus getreten ist.

Ringel beschäftigte sich besonders mit der Suizidprävention.
Foto: Robert Newald

Am Wörthersee die Seele baumeln lassen

Der Seelenforscher war im kleinen Rahmen ein ganz normaler Mensch und für kleine Kinderaugen manifestierte sich der Charakter eines Genussmenschen, der unter anderem eine Affinität zu beispielsweise dem italienischen Gericht Zuckermelone mit Prosciutto hatte, welches er als Vorspeise mit nahezu kindlicher Hingabe konsumierte. Für einen Buben war der Anblick der ehrlichen tiefen Freude des Analytikers der österreichischen Seele beim Verspeisen des Gerichtes mehr als nur einprägsam. Der Arzt, der selbst viele Jahrzehnte mit einer schweren und zunehmenden Behinderung leben musste, die ihn in den letzten zehn Jahren seines Lebens an den Rollstuhl fesselte, liebte die entspannte Atmosphäre des Wassers vom Wörthersee. Hier war er nahezu selbst Kind und konnte für seine Verhältnisse in diese Welt der Unbeschwertheit regredieren. Italien und Kärnten liebte der Seelenkundler ob der Leichtigkeit des Seins seiner Menschen, die er in seinen Arbeiten oft beschrieb und treffend darstellte.

Witzeling

Prägung der Kindheit

Die Entwicklungspsychologie und im Speziellen die Forschungsarbeiten von Jean Piaget liefern wichtige Grundlagen zum Verständnis der kognitiven Entwicklung von jungen Menschen. Um einen praktischen Einblick in die Mechanismen der kindlichen Psyche zu bekommen, eignet sich das folgende Ereignis: An einem schönen Sommertag am See saß Ringel nach einem ausgedehnten Aufenthalt im Wasser am Steg. Plötzlich schrie dieser auf theatralische Weise auf und sagte zu seiner Gattin: “Angela, ich habe einen Spieß im Popo“.

Diese Anekdote soll keineswegs am Nimbus, der Geistesgröße Ringel kratzen, aber veranschaulichen, wie Kinder die Welt wahrnehmen. Gerade Ringel, der ein Kämpfer für das ungezwungene Leben von jungen Menschen war und der die Unterdrückung der Kinder, die diese in die Neurotisierung treibt, thematisierte, hätte mit diesem Fallbeispiel die wenigsten Probleme gehabt. Dies wahrscheinlich aufgrund der Tatsache, dass er bei aller Expertise bis ins hohe Alter in gewisser Art Kind geblieben ist. Eine Fähigkeit, die wir alle gerade in schwierigen Lebenssituationen nicht verlernen sollten. (Daniel Witzeling, 27.4.2021)

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