Jekaterinburg – Jan Nepomnjaschtschi ist wahrlich kein langsamer Brüter. Der 30-Jährige aus Brjansk verbraucht selten die gesamte ihm zur Verfügung stehende Bedenkzeit. Manchmal benötigt "Nepo" sogar nur ein halbes Stündchen, um einen Weltklassegegner scheinbar beiläufig an die Wand zu spielen.

An anderen Tagen aber wird sein nervöses Genie erratisch. Dann stellt der Russe mit der Dutt-Frisur schon einmal einzügig Figuren ein oder lässt sich unerwartet widerstandslos zusammenschieben. Besonders in der zweiten Hälfte langer Turniere ist Nepomnjaschtschi dergleichen wiederholt passiert. Sollte ihm beim Kandidatenturnier noch ein ähnlicher Einbruch zustoßen, man müsste es als echte Tragödie bezeichnen. Denn die aktuelle Nummer drei der Welt spielt in Jekaterinburg bisher das Turnier ihres Lebens.

Mit 8 Punkten aus 12 Partien konnte Nepo schon ganze fünf Siege anschreiben, denen nur eine Niederlage gegen den Franzosen Maxime Vachier-Lagrave gegenübersteht. Zuletzt konterte er mit Schwarz den zunehmend indisponiert wirkenden Chinesen Wang Hao aus. Bei drei der vier letzten Kandidatenturniere genügten dem Sieger 8,5 Punkte aus 14 Partien im Endklassement, um das Ticket für ein Match gegen den amtierenden Weltmeister zu lösen. Dass für Nepomnjaschtschi dieses Jahr selbst 9 Punkte theoretisch zu wenig sein könnten, liegt einzig und allein an einem Mann: Anish Giri.

Die Wandlung der Friedenstaube

Der 26-jährige Niederländer liefert sich gerne ironische Twitter-Gefechte mit Weltmeister Magnus Carlsen. Giri neckt Carlsen, wenn der ausnahmsweise einmal ein Turnier nicht haushoch gewinnt. Carlsen neckt zurück, dass Giri überhaupt noch nie ein wichtiges Turnier gewonnen hat. Das stimmt zwar, könnte sich allerdings bald ändern: Denn mit 7,5 Punkten liegt der fast zerbrechlich schmal aussehende junge Mann zwei Runden vor Schluss nur einen halben Punkt hinter Jan Nepomnjaschtschi auf Platz zwei. Seit Wiederaufnahme des Turniers hat Giri fantastische vier Punkte aus fünf Partien geholt und dabei nacheinander die Elo-Favoriten Ding Liren und Fabiano Caruana besiegt, letzteren gar mit den schwarzen Steinen.

Was ist nur in den vielsprachigen Sohn eines nepalesischen Hydrologen gefahren, der in Russland und Japan aufwuchs, bevor er 14-jährig mit seiner Familie in die Niederlande zog und mit 21 die georgische Schachmeisterin Sopiko Guramischwili heiratete? Das fragt sich wohl nicht nur Magnus Carlsen, der Giri sonst gerne für dessen Remissucht häkerlt, sondern mit diesem die ganze Schachwelt.

Zwar gehört der Niederländer seit Jahren verlässlich zur Weltspitze. Ebenso verlassen konnte man sich bisher aber auf Giris hyperkorrekte Herangehensweise an seinen Beruf, die zusammen mit einem Mangel an Killerinstinkt in klar besseren Stellungen zu Ergebnissen wie dem Folgenden beitrug: Bei Giris erster Teilnahme an einem Kandidatenturnier im Jahr 2016 gelang dem Novizen das Kunststück, alle 14 Partien des Events zu remisieren.

Der Ruf der langweiligen Friedenstaube verfolgt Anish, der schon als Jugendlicher von vielen als zukünftiger Weltmeister gehandelt wurde, seither hartnäckig. Zwar zeigte Giri zu Anfang dieses Jahres mit einem geteilten ersten Platz beim Traditionsturnier in Wijk aan Zee auf, während Weltmeister Carlsen nur Platz sechs belegte. Allerdings schlug selbst da wieder der Giri-Fluch zu: Den sicher geglaubten Turniersieg verschusterte die niederländische Nummer eins im Blitztiebreak gegen ihren erst 21-jährigen Landsmann Jorden van Foreest.

Neuer Stil

Dass Anish Giri in Jekaterinburg plötzlich so forsch und aggressiv zu Werke gehen würde, hätten jedenfalls nur die Wenigsten erwartet. In Runde 11 schockt die aktuelle Nummer vier der Welt sogar ihren eigenen Sekundanten, Max Warmerdam. Der schildert später das Gefühl der Beklemmung, das ihn befällt, als Giri gegen Ding Liren nicht charaktertypisch seinen Mehrbauern verwaltet, sondern stattdessen lässig einen Läufer opfert, um den chinesischen König wenig später im Mattangriff zu erlegen. Glaubt man Warmerdam, dann hat sein Chef die Pandemie genutzt, um seinen Stil umzukrempeln: Der neue Giri spielt auf Sieg – zumindest, wenn wie bei einem Kandidatenturnier nur der erste Platz zählt.

Zu dieser Philosophie passt auch Giris Schwarzsieg aus Runde 12 gegen Vizeweltmeister Caruana: Schon die sizilianische Scheveningen-Struktur, die Giri anstrebt (einst eine Spezialität des großen Garri Kasparow) ist eine eindeutige Kriegserklärung. Caruana, der selbst dringend einen Sieg benötigt, nimmt den Fehdehandschuh dankend auf – nur um von Giri Zug für Zug schwarzfeldrig überspielt und am Schluss per effektvollem Springereinschlag über den Jordan geschickt zu werden. So deftig verliert Carlsens letzter Herausforderer, der damit für diesmal aus dem Rennen ist, nur ganz selten – insbesondere mit den weißen Steinen.

Video-Analyse von Schach-Großmeister Markus Ragger.
Österreichischer Schachbund

Ausgerechnet die allererste Runde des Turniers, sie liegt inzwischen weit mehr als ein Jahr zurück, könnte Hollands WM-Hoffnung jedoch zum Verhängnis werden. Am 17. März 2020 hatte Jan Nepomnjaschtschi Giris vorbereitete Neuerung in einer komplexen Variante der Englischen Partie quasi am Brett widerlegt und diesem damit die bisher einzige Turnierniederlage zugefügt. Da das zweite Aufeinandertreffen remis endete, hat Nepo das direkte Duell gewonnen und hätte damit bei Punktegleichstand der beiden im Endklassement die Nase vorn.

So muss Giri, der nominell nur einen halben Punkt zurückliegt, in den letzten beiden Runden am kommenden Montag und Dienstag in Jekaterinburg ein Husarenstück vollbringen und einen ganzen Punkt mehr als sein Konkurrent holen. Remisiert der Russe zweimal, braucht Giri zwei weitere Siege, womit er in der Rückrunde auf 6 aus 7 käme – es wäre eine der beeindruckendsten je bei einem Kandidatenturnier erzielten Leistungen. Andernfalls benötigt er Schützenhilfe, zum Beispiel vom drittplatzierten Maxime Vachier-Lagrave. Der Franzose verfügt selbst auch noch über theoretische Chancen auf Platz eins, müsste dafür aber in jedem Fall im Schlussdurchgang mit Schwarz gegen Nepomnjaschtschi gewinnen.

Ausgeschlossen ist in den letzten Runden eines Kandidatenturniers sowieso nichts. So kann man Nepomnjaschtschi auch zutrauen, das Turnier mit ein bis zwei weiteren Siegen und unbeeindruckt von möglichen Glanzleistungen seines ersten Verfolgers nach Hause zu spielen.

Wessen Schadenfreude Anish Giri in diesem Fall auf Twitter ertragen müsste, dürfte nicht schwer zu erraten sein. (Anatol Vitouch, 25.4.2021)