Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt: "A Bouquet of Love I Saw in the Universe’’ von Yayoi Kusama im Berliner Martin Gropius Bau.
Foto: Luca Girardini

"Warum sehen die Bäume aus wie Fliegenpilze?", fragt ein Kind seinen Vater. Gute Frage. Der Kleine weiß noch nicht, dass die Punkte – alias Polka Dots – Markenzeichen der japanischen Künstlerin Yayoi Kusama sind. Sie bilden auch das poppige Entree ihrer ersten Deutschland-Retrospektive "A Bouquet of Love I Saw in the Universe" im Berliner Gropiusbau. Vorerst ist diese für Publikum allerdings nur digital zugänglich. Just einen Tag nach der Eröffnung, wurde in Deutschland die Notbremse gezogen – und sind somit auch die Museen wieder geschlossen. Kurz davor konnte die Schau noch vor Ort besichtigt werden.

Im imposanten Lichthof des Museums ranken sich 16 pink-getupfte, bis zu zehn Meter hohe, aufgeblasene Tentakel in den Deckenhimmel. Kusamas obsessiver Drang, ihr Umfeld mit Werken sinnlich pompös zu besetzen, hat da einen besonderen Reiz. Momentan gibt es wohl keine Künstlerin mit einer größeren Instagram-Kompatibilität als die Japanerin, die sich noch im hohen Alter mit ihrem grellen Pagenkopf bestens zu inszenieren weiß.

Meisterin der Punkte: Yayoi Kusama
Foto: Courtesy Ota Fine Arts, Victoria Miro & David Zwirner

Gerade erst poppten in den sozialen Medien die Fotos aus dem Botanischen Garten in New York auf, dort wird ihre Outdoor-Skulpturen-Schau "Cosmic Nature" präsentiert. Mit 92 Jahren scheint sie nicht müde, ihr eigenwilliges Universum mit aktuellen Arbeiten zu komplementieren. In die überbordende Welt der Punkte-Lady gehören auch kecke Phalli und tanzende Kürbisse, damit ist sie weltberühmt geworden, spät, aber immerhin.

Dem Gropiusbau gelingt es, den Spagat zwischen poppig-populärer Leichtigkeit und akademischer Tiefenbohrung auszubalancieren. Drei Jahre enge Zusammenarbeit mit dem Studio in Tokio stecken in der Vorbereitung für die Schau, die den Fokus auf Kusamas Ausstellungstätigkeit in Europa und Deutschland lenken möchte. Mehrere Besuche bei der Künstlerin in Tokio gehörten ebenso dazu.

All Over Kusama: 250 Arbeiten der Künstlerin auf 3000 Quadratmeter in 19 Räumen.
Foto: Gropius Bau / Luca Girardini

Mehr als Anhaltspunkte

Ein Aufschlag, der sich sehen lassen kann: 3000 Quadratmeter werden in 19 Räumen mit 250 Werken – wie ein riesiges All Over – überzogen. Der Gropiusbau-Direktorin Stefanie Rosenthal geht es darum, Modernität, Progressivität und die ungeheure Vielseitigkeit der Künstlerin zu spiegeln, die schnell auf ihre Punkterei reduziert wird. Zu zeigen, warum sie in kein kunsthistorisches Schema richtig passt – und wie unbeirrt sie von Anfang an arbeitete, wie unzertrennbar Kunst und Leben bei Kusama bis heute ineinanderfließen.

Acht ihrer Ausstellungen werden mittels originaler Grundrisse rekonstruiert, angefangen mit der ersten Schau aus dem Jahr 1952 in ihrer Heimatstadt Matsumoto, weiter über New York bis Mailand, Essen und andere Städte. Am Ende des Rundgangs folgt dann ein furioser Auftritt mit aktuellen, ein Meter großen Gemälden in Petersburger Hängung: Erstaunlich, mit welch kraftvollem Zugriff und praller Farbigkeit die Künstlerin in den letzten zwei, drei Jahren noch gearbeitet hat. Die Kusama-typischen Augen, Münder, dazu wirbelnde Pantoffeltierchen und andere amorphe Wesen sortieren sich hier, dicht an dicht, zu reinen, strahlenden Abstraktionen. Eine Annäherung an die Kompositionen der Klassischen Moderne – Paul Klees und Joan Miros – scheinen nicht fern.

Yayoi Kusama inmitten ihrer Installation "Infinity Mirror Room – Phalli’s Field" von 1965.
Foto: Ota Fine Arts, Victoria Miro

Kusama war von Anfang ein Star der Vermarktung. Raumgroße historische Fotografien zeigen sie in popkultureller Selfie-Manie, Identitätskonstruktionen wie heute auf Social-Media-Plattformen: liegend, sitzend, stehend – stets im eigenen Werk. Auf allen Kanälen sorgte sie, die junge, schmale Frau mit dem schweren Akzent, im New York der 1960er-Jahre für Wirbel. Sie wollte Aufmerksamkeit – und brauchte Geld. Sich bloß nicht verstecken, schon gar nicht hinter den umtriebigen Kunst-Boys wie Andy Warhol und Donald Judd.

Da half Provokation: Für ihre Ausstellung "One Thousand Boats Show" 1963 in der Gertrude Stein Gallery bestückte sie ein Ruderboot mit hunderten weißen Stoffpenissen. In ihrem Heimatland wurde sie zur Persona non grata.

Popkult auf Instagram: Von der Outdoor-Skulpturen-Schau "Cosmic Nature" aus dem Botanischen Garten in New York.

Zimmer mit Aussicht

Dass Kusama unter einer psychischen Erkrankung leidet, ist bekannt. Sie machte nie ein Geheimnis daraus. "Der Hintergrund meiner Werke ist, dass ich meine psychischen Probleme in Kunst verwandle", erklärte sie einmal. Die Anhäufung von Motiven sei das Ergebnis "meiner Obsession". Seit den 1970er-Jahren – nach ihrer Rückkehr aus New York – lebt sie in Tokio in einer psychiatrischen Klinik. Auf eigenen Wunsch. Gleich nebenan in der Nachbarschaft liegt ihr Atelier, um die Ecke befindet sich ihr Museum. Ihr Kusama-Kosmos. Mittlerweile hat sie sich in ihrem Klinik-Zimmer eine Arbeitsecke eingerichtet.

Die mentale Disposition, ihre Halluzinationen sind natürlich Folie der Ausstellung. Der Angst vor Auflösung begegnet Yayoi Kusama mit künstlerischer Verdichtung – der "Punktisierung". Die Kunst bleibt ihr Ventil. (Gabriela Walde, 26.4.2021)