Angesichts der seit Tagen andauernden Ausschreitungen in der Jerusalemer Altstadt hat die Polizei ihre Einsatzkräfte aufgestockt.

Foto: EMMANUEL DUNAND / AFP

Es ist wieder so weit: In Jerusalem, der Stadt der heiligen Stätten und der ständig schwelenden Spannung, läuft das Fass über. Keine Nacht vergeht ohne gewalttätige, körperliche Auseinandersetzungen. Am Donnerstag fanden sie einen Höhepunkt, als Gruppen jüdischer Rechtsextreme vor dem Damaskustor aufmarschierten und antiarabische Hetzslogans skandierten, während dort, wie auch schon in den Tagen zuvor, Palästinenser gegen Einschränkungen im Ramadan demonstrierten.

Nicht alle von ihnen nutzten die Straße allein dazu, ein Zeichen des Protests zu setzen. Kleine Gruppen von Palästinensern gingen in der Altstadt auf Jagd: Sie suchten nach Menschen, die ihnen jüdisch vorkamen, um sie zu bedrängen oder gar zu verprügeln – und ihre Tat auf Tiktok zu verbreiten.

Auf beiden Seiten sind es junge Männer mit verengter Weltsicht und einem ausgeprägten Aggressionsproblem, welche die Gewaltspirale nach oben treiben. Den Preis dafür zahlen alle. Immer wieder wurden auch Passanten attackiert. Ein jüdischer Autofahrer sah sich am Donnerstag einem Lynchtrupp gegenüber, der ihn aus dem Auto zerrte, krankenhausreif prügelte und danach das Auto in Brand setzte. In Westjerusalem wurde eine Demonstration linker Israelis von jungen Rechtsextremen gestört. Die Polizei schritt ein, um gewaltsame Übergriffe im Zaum zu halten.

Sirenen und Raketen

Den Preis für die Eskalation in Jerusalem zahlen auch die Bewohner jener Gemeinden und Kibbutzim nahe der Gaza-Grenze, die am Wochenende Sirenengeheul und Raketendonner ausgesetzt waren. Die im Gazastreifen regierende Hamas feuerte allein in der Nacht auf Samstag 36 Raketen auf Israel. Es ist die schärfste Attacke seit eineinhalb Jahren. Sechs Raketen wurden vom Abwehrsystem Iron Dome abgefangen. Das israelische Militär antwortete mit dem Beschuss von Hamas-Zielen in Gaza.

Die Krawalle in Jerusalem und die Eskalation an der Grenze zum Gazastreifen stehen in einem Zusammenhang. Man bereite sich auf "unterschiedliche Szenarien" vor und stocke die Kapazitäten auf, heißt es in einer Pressemeldung der Streitkräfte. Generalstabschef Aviv Kochavi, der am Sonntag nach Washington fliegen sollte, um dort gemeinsam mit weiteren Vertretern des israelischen Sicherheitsapparats über den Verlauf der Iran-Verhandlungen zu diskutieren und Israels ablehnende Haltung zu bekräftigen, hat den Besuch verschoben.

Am Sonntag erklärte Kochavi Medienvertretern, dass man nun weitere Schritte prüfe. Wenn sich die Lage in Jerusalem beruhige, dann werde sie das auch an der Gaza-Grenze tun, heißt es. Weder Israel noch Gaza hätten derzeit ein Interesse an einer Eskalation, so Kochavi.

Wahlkampf

Allerdings befindet sich die Hamas im Wahlkampf – und versucht aus der Lage Profit zu schlagen. Die Bilder jüdischer Rechtsextremer, die im Ramadan vor muslimisch bewohnten Gebieten aufmarschieren, werden in Hamas-nahen Medien als Vorgehen Israels gegen Palästinenser verkauft.

Inoffizielle Quellen in Gaza-Stadt bezeichnen den Raketenbeschuss als "Antwort" auf Israels Weigerung, die palästinensischen Parlamentswahlen am 22. Mai auch in Ostjerusalem stattfinden zu lassen. Die Palästinenserbehörde erwägt, die Wahl zu verschieben. Ein Votum, das Ostjerusalem ausschließt, sei inakzeptabel, heißt es.

Politisches Kleingeld

Auch in Israel, wo Übergangspremier Benjamin Netanjahu darum ringt, eine neue Regierung zustande zu bringen, machen sich politische Akteure die Eskalation zunutze. Bezalel Smotrich, Vorsitzender des Rechtsaußen-Parteienbündnisses Religiöse Zionisten, schoss sich auf Netanjahu ein, der im Zusammenhang mit den Jerusalemer Zusammenstößen "alle Seiten" zur Beruhigung aufgerufen hatte.

Die Gewalt gehe nur von arabischer Seite aus, erklärte Smotrich sinngemäß, Netanjahus Wortmeldung sei ein Affront. Es wäre schon langsam an der Zeit, den Premier "auszutauschen", sagte Smotrich. Gegen wen, verriet er nicht. Das Problem, dass auch nach der vierten Neuwahl kein Parteichef gute Chancen hat, eine Mehrheit zu finden, besteht nach wie vor. Laut einer aktuellen Umfrage würde auch eine fünfte Neuwahl zu einer ähnlichen Pattsituation führen.

In Jerusalem stockt die Polizei indes ihre Präsenz in den zentrumsnahen östlichen Gebieten auf. Als Horrorszenario gilt ein Terroranschlag, entweder von arabischer oder von jüdisch-rechtsextremer Seite. Ein solcher drohe die Lage endgültig außer Kontrolle zu bringen – nicht nur in Jerusalem, sondern in der ganzen Region. (Maria Sterkl aus Jerusalem, 25.4.2021)