Gedenkveranstaltung der Jüdischen HochschülerInnenschaft, der European Union of Jewish Students, der ÖH Uni Wien und der Muslimischen Jugend Österreich für die Opfer des Anschlags in der Wiener Innenstadt am Donnerstag, 5. November 2020.

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Im vergangenen Jahr gab es in Österreich mindestens 585 antisemitische Vorfälle, durchschnittlich 49 Vorfälle pro Monat. Ein neuer Negativrekord, wie aus dem am Montag veröffentlichten Antisemitismusbericht der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (IKG) hervorgeht.

Der Bericht spricht auch von einem "Jahr im Zeichen der Gewalt" gegen Juden und Jüdinnen. Neben tätlichen Angriffen auf den Präsidenten der Jüdischen Gemeinde Graz und einen Rabbiner in Wien wird auch der islamistische Terroranschlag vom 2. November ins Treffen geführt, welcher bei der Wiener Hauptsynagoge seinen Anfang nahm und bei dem im umliegenden Ausgehviertel im Zentrum der Stadt vier Personen getötet und 23 teils schwer verletzt wurden. Laut dem Bericht gehen die Sicherheitsbehörden mittlerweile davon aus, dass die jüdische Gemeinde ein Ziel des Attentäters war. Dass die Räumlichkeiten der IKG (Synagoge, Büros, Buchhandlung) zum Zeitpunkt des Anschlags bereits geschlossen waren sowie das dem Gebäudekomplex angeschlossene koschere Restaurant an jenem Abend infolge einer kurzfristigen Stornierung einer Reservierung nicht geöffnet hatte, dürfte noch Schlimmeres verhindert haben.

"Es ist von einer hohen Dunkelziffer nicht gemeldeter Vorfälle auszugehen"

Die insgesamt 585 antisemitischen Vorfälle im Jahr 2020 entsprechen einem Anstieg von 6,4 Prozent gegenüber dem Vorjahr und somit der höchsten erfassten Anzahl antisemitischer Vorfälle seit Beginn der Dokumentation vor 19 Jahren. Dabei beinhaltet der Bericht ausschließlich Vorfälle, die von Expertinnen und Experten der Antisemitismus-Meldestelle der IKG verifiziert wurden. "Es ist von einer hohen Dunkelziffer nicht gemeldeter Vorfälle auszugehen", wie im Bericht betont wird.

Im vergangenen Jahr wurden elf tätliche Angriffe, 22 Bedrohungen, 53 Sachbeschädigungen und zahlreiche Beleidigungen gemeldet. Der Großteil der Vorfälle betrifft antisemitische verbale Beschimpfungen, dazu kommen noch judenfeindliche E-Mails, Briefe, Anrufe und Postings sowie Beiträge in Social Media.

Antisemitismus sitzt bei Corona-Demonstrationen sehr locker

Im Bericht werden auch die sogenannten Corona-Demonstrationen erwähnt, bei denen der Antisemitismus sehr locker sitzt. Schon bei den ersten Kundgebungen in Wien waren gelbe "Judensterne" mit der Aufschrift "ungeimpft" in Anlehnung an die Zeit des Nationalsozialismus zu sehen. Weiters trug ein Mann eine Zeichnung mit der Aufschrift "Impfen macht frei", eine Abwandlung des Spruchs, der durch seine Verwendung als Inschrift an den Toren zu den nationalsozialistischen Vernichtungslagern bekannt ist. "Hierbei handelte es sich vor allem um Fälle von Shoah-Relativierung und der Verbreitung von antisemitischen Verschwörungsmythen", wie die Autoren des Berichts feststellen. Dass dabei von Protestierenden ausgerechnet der sogenannte "Judenstern" missbraucht wird, wird scharf kritisiert. Dies sei ein "bewusster Versuch, dieses einprägsame Symbol der Judenverfolgung, an deren Ende die Massenvernichtung stand, zu instrumentalisieren". Und dies könne nur als "weiterer Versuch gewertet werden, die Schrecken der Shoah zu relativieren, entsprechende Hemmschwellen zu reduzieren sowie jahrzehntelange Aufklärungs- und Geschichtsbildungsarbeit zu torpedieren".

Wie sich der Antisemitismus in Österreich 2020 manifestierte.

Der Großteil der Vorfälle betrifft verbale Beschimpfungen ("Verletzendes Verhalten"), dazu kommen noch judenfeindliche E-Mails, Briefe, Anrufe und Postings sowie Beiträge in Social Media ("Massenzuschriften").
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Auch wird festgehalten, dass Rechtsextremisten regelmäßig bei den Demonstrationen in Erscheinung treten. Neben den Identitären auch Neonazis rund um Gottfried Küssel, der als eine Art Säulenheiliger der Szene gilt. Ein Auftreten, das von anderen Teilnehmern und Teilnehmerinnen geduldet wird. Schon bei der ersten Demonstration in Wien im April 2020 war Identitären-Sprecher Martin Sellner dabei.

"Antisemitismus ist das Gerücht über die Juden"

Für Oskar Deutsch, den Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde, bewahrheitet sich in der Corona-Pandemie Theodor Adornos Ausspruch "Antisemitismus ist das Gerücht über die Juden", wie er dem STANDARD sagt. Speziell im Internet und auf vielen Demonstrationen wurden wüste antisemitische Lügen verbreitet. Aus solchen Worten könne sich ein Flächenbrand der Taten entwickeln, mahnt Deutsch. "Es liegt an jedem und jeder Einzelnen, einen antisemitischen Witz im Internet, eine Verschwörungslüge auf einer Demo oder in einer Schulklasse nicht hinzunehmen, sondern dagegen aufzutreten."

Der Antisemitismusbericht ordnet die Mehrzahl der Übergriffe gegen Juden und Jüdinnen auch ideologisch zu. Demnach haben die meisten Vorfälle (229) einen rechtsextremen Hintergrund, gefolgt von linken (87) und muslimischen (74) Motiven. Bei 195 Vorfällen war keine Zuordnung möglich. (Markus Sulzbacher, 26.4.2021)