Das Gespenst der Neugliederung des Balkans entlang ethnischer Linien durch die Zerschlagung des Vielvölkerstaates Bosnien-Herzegowina ist seit einigen Tagen zurück in der europäischen Debatte. Es handelt sich um ein sogenanntes "Non-Paper" – so nennt man in der Diplomatie unterschriftslose Dokumente –, die als Diskussionsgrundlage ohne offizielle Position im Umlauf sind und als politische Versuchsballone dienen. Die Veröffentlichung des Dokuments "Westbalkan – ein Weg nach vorn" durch das slowenische Onlineportal Necenzurirano und die Debatten über die Urheberschaft und den Zweck des explosiven Schriftstückes, das bereits im Februar dem EU-Ratspräsidenten Charles Michel übermittelt wurde, sorgen zu Recht für Aufregung in der ganzen Region.

Denkmal zur Unabhängigkeit Bosnien-Herzegowinas in Sarajewo.
Foto: imago/Pixsell/Armin Durgut

Ernest Gellner, der bedeutende aus Prag gebürtige britische Soziologe (1925–1995), wies darauf hin, dass die Rolle der Kommunikation bei der Ausbreitung des Nationalismus entscheidend sei. Die verhängnisvollen Folgen der Gedankenspiele um neue Grenzen entlang ethnischer Linien haben wir vor einem Vierteljahrhundert in den blutigen Jugoslawienkriegen gesehen. Die Orgien des Hasses sind in der Politik und in den Medien der aus der Konkursmasse des versunkenen Jugoslawiens entstandenen Nachfolgestaaten bis heute spürbar.

Das Papier schlägt die Aufteilung Bosnien-Herzegowinas, jenes serbisch-kroatisch-muslimischen Staates vor, den der französische Staatspräsident Emmanuel Macron einmal als "tickende Zeitbombe" bezeichnet hat. Die Republika Srpska solle Serbien zugeschlagen werden, die vornehmlich kroatischen Gebiete der Herzegowina Kroatien. Der muslimisch dominierte Rumpfstaat könne zwischen der EU und der Anbindung an die Türkei wählen. Zugleich soll Kosovo, ohne den nördlichen serbischen Teil um Mitrovica, der nach dem Vorbild Südtirols einen Sonderstatus erhalten sollte, mit Albanien vereinigt werden.

Geheimgespräch

Es wird auch spekuliert, dass der mit dem serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić befreundete slowenische Ministerpräsident Janez Janša angesichts der anstehenden Ratspräsidentschaft nur als Vermittler fungiert und der eigentliche Urheber Vučić sein soll.

Man erinnert sich an das Geheimgespräch des serbischen Regierungschefs Slobodan Milošević mit dem kroatischen Ministerpräsidenten Franjo Tuđman 1991 über die ethnisch-territoriale Aufteilung von Bosnien-Herzegowina, und auch an die von der Trump-Regierung geförderte Diskussion vor zweieinhalb Jahren zwischen Vučić und dem damaligen Kosovo-Staatspräsidenten Hashim Thaçi über einen möglichen "Gebietstausch".

Die Fantasterei über die Schaffung eines Großserbiens, Großkroatiens und Großalbaniens ist auch die Folge der arroganten Gleichgültigkeit in Brüssel nach dem Verlust der EU-Perspektive für die sechs sogenannten Westbalkan-Staaten. Allein das absurde Gerede könnte die fragile Friedensordnung gefährden und die "tickende Zeitbombe" irgendwann zur Explosion bringen. Deshalb müssen die EU-Institutionen die von slowenischer Seite verbreiteten Ideen der neuen Grenzziehungen als ein Spiel mit dem Feuer von vornherein vorbehaltlos öffentlich ablehnen. (Paul Lendvai, 27.4.2021)