Foto: Imago / Vincent Isore

26.000 Menschen sind am Sonntag in mehreren französische Städten für einen Prozess im Mordfall Halimi auf die Straße gegangen. Ein 27-jähriger Mann hatte seine 65-jährige Nachbarin Sarah Halimi im Jahr 2017 über ihren Balkon im dritten Stockwerk in den Tod gestürzt.

Der Zorn der französischen Juden richtet sich gegen den Kassationshof in Paris. Er hatte Mitte April – wie vor ihm schon das Berufungsgericht – befunden, dass der Täter Kobili T. während seiner Handlung nicht zurechnungsfähig gewesen sei. Er könne deshalb nicht vor Gericht gestellt werden, auch wenn er womöglich sein Leben lang in psychiatrischem Gewahrsam bleiben werde.

Proteste gegen Entscheidung

Laut mehreren übereinstimmenden Gutachten litt T. bei seiner Tat unter einem "Wahnanfall" ("bouffée délirante"), der durch Cannabiskonsum verstärkt worden sei. Sich von "Sheitan" (Teufel, Dämon) verfolgt wähnend, hatte der junge Mann zuerst in der Wohnung seiner Nachbarin Halimi Hilfe holen wollen; doch als er einen siebenköpfigen jüdischen Leuchter erblickte, drehte er laut der Ermittlung durch und begann unter Anrufung Allahs auf die 65-jährige Rentnerin einzuschlagen. Dann warf er sie über die Brüstung in die Tiefe.

Noch vier Jahre danach ist der Schrecken über die teils mysteriöse Tat groß. Allein in Paris demonstrierten 20.000 Bürgerinnen und Bürger. Solidarisch bezeichneten sich auf dem Pariser Trocadéro-Platz auch Bürgermeisterin Anne Hidalgo, die frühere First Lady Carla Bruni und der Vorsteher der Macron-Partei "La République en Marche", Christophe Castaner.

Zahlreiche Vorwürfe

Fünf der mit dem Fall betrauten Psychiater reagierten am Sonntag unüblich mit einem offenen Brief. Sie zeigen Verständnis für die Empörung und stellen die antisemitische Dimension der Mordtat nicht in Abrede; einem psychisch Kranken könne aber, auch wenn er gemeingefährlich sei, nicht der Prozess gemacht werden, fügten sie an.

Dieser Standpunkt überzeugte die Demonstranten nicht. Der Kriminologe Alain Bauer meinte, Cannabiskonsum zur Tatermutigung gelte offenbar nicht mehr als erschwerender, sondern im Gegenteil als entlastender Umstand. Diese polemische Feststellung enthält auch einen impliziten Vorwurf an die Justiz, sie nehme den Antisemitismusaspekt nicht ernst genug.

Präsident Emmanuel Macron gab seine ihm gebotene Neutralität in Justizangelegenheiten auf und zeigte sich erstaunt über die Nichtansetzung des Prozesses: "Wer sich entscheidet, Drogen zu nehme, um als 'verrückt' zu gelten, sollte an sich seiner strafrechtlichen Verantwortung nicht entgehen."

Gesetzesverbesserung angekündigt

Justizminister Eric Dupond-Moretti kündigte an, er werde in Macrons Auftrag noch im Mai ein Gesetz vorlegen, "um die Rechtslücke zu stopfen". Die frühere Richterin Evelyne Sire-Martin erklärte darauf, es gebe in der Frage der Unzurechnungsfähigkeit gar keine Rechtslücke im französischen Strafrecht, ob die Tat nun antisemitisch sei oder nicht.

Die jüdischen Verbände Frankreichs wollen das Verfahren hingegen an den Europäischen Gerichtshof weiterziehen und parallel dazu ein Verfahren in Israel anstrengen. Francis Khalifa, Vorsitzender des jüdischen Dachrats Crif, erklärte, die juristische Begründung der Unzurechnungsfähigkeit genüge nicht; von einem gesellschaftlichen Standpunkt aus sei die Verfahrenseinstellung "schockierend", da sie den Antisemitismus in den französischen Einwanderervierteln negiere.

Politisch heikel

Viele Demonstrationsteilnehmer erinnerten auch an die Ermordung der 85-jährigen Jüdin Mireille Knoll im Jahr 2018 in Paris. Der Täter, ein junger Maghrebiner, soll die ihm bekannte Frau erstochen haben, weil die Juden reich seien. Dieses Tatmotiv nannte jedenfalls ein obdachloser Augenzeuge der Tat, auch wenn er später wieder davon abrückte. Das Gericht nimmt im anstehenden Prozess Antisemitismus als Tatmotiv an.

Dass der Antisemitismus und Antizionismus in Banlieue-Vierteln grassiert, macht die Mordfälle sehr politisch – und sehr heikel. Vor allem im Großraum Paris haben viele Juden ihre angestammten Wohnviertel verlassen, da sie sich nicht mehr gefahrlos auf der Straße bewegen können. Lehrer berichten, ihr Unterricht werde schon von zwölfjährigen Schülern boykottiert, wenn im Geschichtsunterricht der Holocaust zur Sprache komme. (Stefan Brändle aus Paris, 26.4.2021)