Solidarität mit der HDP in Genf.

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Unter starken Einschränkungen für die Öffentlichkeit hat am Montag im Gerichtssaal des Gefängnisses Sincar bei Ankara das Hauptverfahren gegen den früheren Vorsitzenden der linken kurdischen HDP, Selahattin Demirtaş, und weitere 107 Funktionäre und Funktionärinnen der HDP begonnen. Ein großes Polizeiaufgebot vor dem Gerichtssaal behinderte am Morgen vor Prozessbeginn eine Stellungnahme des aktuellen Co-Vorsitzenden der HDP, Mithat Sancar.

Anwesende Journalisten wurden daran gehindert, Sancar zu filmen, der den Vorwurf vorbrachte, der Prozess sei ein Racheprozess der Regierung, die nicht verdaut habe, dass die Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) 2014 in Kobane von den Kurden besiegt werden konnte.

Der jetzt begonnene Prozess soll die Ereignisse um die türkisch-syrische Grenzstadt Kobane aufarbeiten, die im Winter 2014/15 vom IS belagert wurde. Weil die türkische Armee damals die Kurden aus der Türkei daran hinderte, über die Grenze ihren Verwandten zu Hilfe zu kommen, rief der damalige Co-Chef der HDP, Selahattin Demirtaş, zu Protestaktionen auf.

108 Personen angeklagt

Im Rahmen dieser Proteste kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten, Polizei, Gendarmerie und IS-nahen Organisationen, die nach Angaben der HDP zu 43 Toten – die Staatsanwaltschaft spricht von 37 – führten. Diese Toten, die nach Angaben der HDP ganz überwiegend Anhänger ihrer Partei waren, werden jetzt der damaligen HDP-Führung und der Partei als Ganzes zur Last gelegt. Insgesamt sind 108 Menschen wegen "Zerstörung der Einheit des Staates" angeklagt, außerdem wegen 37-fachen Totschlags.

Trotz der, zumindest indirekten, Parteinahme für den IS durch die türkische Regierung im Kampf um Kobane wurde der IS letztlich von den kurdischen Verteidigungskräften mit Unterstützung der US-Luftwaffe zurückgeschlagen. Es war die erste große Niederlage des IS in Syrien und der Beginn der von der Türkei scharf kritisierten Zusammenarbeit der USA mit der kurdischen YPG-Miliz im Kampf gegen den IS.

Für die beiden prominentesten Angeklagten, Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, die beiden damaligen Parteiführer, fordert die Staatsanwaltschaft mehrmals lebenslängliche Haft, insgesamt für alle Angeklagten mehrere Tausend Jahre Haft. Demirtaş und Yüksekdağ wurden beide im Herbst 2016 verhaftet und sitzen seitdem in U-Haft.

Türkei gegen EGMR

Gegen Selahattin Demirtaş laufen mehrere weitere Gerichtsverfahren, in einem wurde er bereits zu vier Jahren Haft wegen "Beleidigung des Staatspräsidenten" verurteilt. Dieses Urteil erfolgte, nachdem das Europäische Gericht für Menschenrechte (EGMR) 2018 zum ersten Mal seine Freilassung aus der Untersuchungshaft gefordert hatte.

Im Dezember 2020 urteilte dann die Große Kammer des EGMR erneut und forderte wieder seine Freilassung. In diesem Verfahren entschied der EGMR auch, dass der Aufruf zu Demonstrationen 2014, der jetzt vor Gericht verhandelt wird, von der Meinungsfreiheit gedeckt war.

Wie in den meisten Verfahren gegen Demirtaş waren er und die anderen 27 Angeklagten auch in Sincar nur per Video zugeschaltet.

Der Prozess begann mit Tumulten, die sich auch im Laufe des Tages fortsetzten. Zunächst verweigerte das Gericht einem Teil der Anwälte die Teilnahme, woraufhin sich das gesamte Team zurückzog. Nachdem diese Frage geklärt werden konnte, ließ der Vorsitzende dann Demirtaş nicht reden, was zu erneuten Tumulten führte. Der erste Prozesstag ist der Verlesung der 3.000 Seiten langen Anklage gewidmet.

Zahlreichen in- und ausländischen Menschenrechtsorganisationen, die den Prozess beobachten wollten, wurde der Zutritt zum Gerichtssaal verweigert. (Wolf Wittenfeld aus Ankara, 26.4.2021)