Die Angst vor der Einsamkeit hat sich in der Pandemie verstärkt, sagt Hertz. Sie betrifft aber nicht nur ältere Menschen.

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Seit mehr als einem Jahr erschwert die Corona-Pandemie sozialen Austausch, Treffen und Veranstaltungen. Da verwundert es wenig, dass sich viele Menschen infolgedessen isolierter und einsamer fühlen. Dabei hat der Trend zu mehr gesellschaftlicher Einsamkeit schon viele Jahre vor Corona begonnen, sagt die britische Ökonomin Noreena Hertz, die vor kurzem das Buch "Das Zeitalter der Einsamkeit" veröffentlicht hat, im Gespräch mit dem STANDARD.

Schon vor der Pandemie haben zwei Drittel der Österreicher in Umfragen angegeben, dass sie Angst haben vor Einsamkeit, ebenfalls zwei Drittel aller Deutschen gaben an, Einsamkeit sei ein ernsthaftes Problem, und einer von fünf Millennials in den USA gab an, keinen einzigen Freund zu haben, so Hertz. Ist Einsamkeit tatsächlich so ein großes Problem? Welche Rolle spielen dabei Städte und die Religion? Und können Roboter und "gemietete" Freunde künftig die Einsamkeit lindern? Wir haben der Expertin neun Thesen vorgelegt.

These 1: Unsere Gesellschaft wird immer einsamer.

Hertz: Schon jetzt leben wir in vielen Bereichen isolierter: Wir unternehmen weniger mit anderen als in der Vergangenheit, sind weniger Teil von Gewerkschaften, leben mehr allein als gemeinsam, kommunizieren mehr virtuell als persönlich, bestellen online und machen Yoga-Stunden auf Zoom. Das sind allesamt Trends, die schon vor der Pandemie begonnen und sich seither verstärkt haben. Auch auf gesellschaftlicher Ebene sind wir heute stärker voneinander getrennt: Die politischen Einstellungen haben sich polarisiert, und auch das Vertrauen in andere Mitbürger ist in den letzten zehn Jahren in vielen Ländern gesunken.

Diese Einsamkeit kann mitunter zu gesundheitlichen Problemen führen: Statistisch gesehen ist Einsamkeit in etwa so schlecht, wie wenn man 15 Zigaretten am Tag raucht.

These 2: Soziale Medien verbinden Menschen und können dadurch unsere Einsamkeit reduzieren.

Hertz: Es gibt viele Menschen, für die soziale Medien eine Gemeinschaft und die Möglichkeit bieten, sich mit anderen zu vernetzen, mit denen sie sich sonst wohl nie vernetzt hätten. Wenn du das LGTBQ-Kind bist, das in einem kleinen Dorf lebt, völlig abgeschieden von anderen Menschen mit derselben Orientierung, ist es sehr gut möglich, dass du deine Gemeinschaft auf Facebook finden kannst. Auch in Zeiten der Pandemie spielen die sozialen Medien eine positive Rolle.

Aber anhand vieler wissenschaftlicher Studien hat sich herausgestellt, dass soziale Medien in Summe eher die Menschen trennen als verbinden. Einerseits, weil die Plattformen bewusst so gemacht sind, dass sie abhängig machen können und viele Menschen dort Bestätigung suchen und süchtig nach Aufmerksamkeit werden. Andererseits, weil sich dadurch viele Menschen weniger häufig direkt treffen und bei Treffen oft weniger präsent sind. Zudem fühlen sich viele Menschen in sozialen Medien ausgeschlossen. Das trifft besonders auf Jugendliche zu. Die Technologie kann auch dazu beitragen, politische und gesellschaftliche Spaltungen zu vergrößern, sodass sich immer mehr Menschen isoliert fühlen.

These 3: Eine digitale Freundschaft kann eine "echte" Freundschaft längst ersetzen.

Hertz: Eine digitale Kommunikation kann eine echte sicher nicht ersetzen. Wir sehen nur einen Ausschnitt voneinander, uns fehlt der Geruchssinn, wir können uns nicht gut in die Augen schauen, durch die Übertragung besteht eine Verzögerung in der Art, wie wir uns miteinander verbinden. Wir wissen anhand zahlreicher Studien, dass diese Beziehungen qualitativ schlechter sind als "echte" Beziehungen.

These 4: Viele haben Angst davor, allein zu sein.

Hertz: Es ist wichtig, zwischen Einsamkeit und Alleinsein zu unterscheiden. Wenn du dich dafür entscheidest, allein zu sein, ist das eine aktive und bewusste Entscheidung. Ich selbst genieße es, Dinge allein zu machen. Einsamkeit hingegen ist ein Verlangen nach Verbundenheit, danach, gesehen und gehört zu werden, das nicht erfüllt wird.

These 5: Roboter und Maschinen werden in Zukunft der Ersatz sein für jene, die sich aufgrund von fehlendem menschlichen Kontakt einsam fühlen.

Hertz: Viele Menschen fühlen sich schon jetzt mit bestimmten Objekten verbunden, etwa wenn man an die Zuneigung vieler Menschen zu ihren Autos oder zu Sprachprogrammen wie Alexa denkt. In Umfragen unter jüngeren Menschen in westlichen Gesellschaften zeigt sich, dass sich viele tatsächlich vorstellen könnten, sich mit einer Maschine oder einem Roboter zu befreunden. Vor allem wenn Roboter immer intelligenter werden, werden sie für immer mehr Menschen Freunde und Begleiter werden. Der Vorteil: Roboter können Menschen, die sich sehr isoliert fühlen, Trost spenden. Sie können auch weniger dabei diskriminieren, wem sie ihre Zuneigung schenken, als Menschen dies vielleicht tun würden.

Meine Befürchtung ist, dass diese Mensch-Maschinen-Beziehungen zwischenmenschliche Beziehungen zunehmend ersetzen könnten. Denn Beziehungen mit einer Maschine erfordern viel weniger Einsatz von uns. Sie beruhen nicht auf Gegenseitigkeit oder Höflichkeit. Wenn wir unsere Beziehungen immer mehr dorthin verlagern, riskieren wir, diese Fähigkeiten mit der Zeit zu verlieren. Wir machen es uns damit ein wenig zu leicht, denn zwischenmenschliche Freundschaft bedeutet auch, mit den schwierigeren Seiten einer anderen Person umgehen zu können.

These 6: Wenn Menschen einsam sind, werden sie sich künftig einfach "Freunde" mieten können.

Hertz: Ich habe selbst versucht herauszufinden, wie es ist, eine Freundin für einen Tag zu mieten. Ich habe sie auf einer Website gefunden, auf der mehr als 600.000 Freunde "angeboten" wurden. Wie bei der Roboterfreundschaft ist es die einfache Form der Beziehung: Denn Freunde, die man mietet, werden dafür bezahlt, dass sie über die Witze des anderen lachen, einem zuhören, sich interessiert zeigen.

Als ich meine gemietete Freundin fragte, wer ihre Kunden seien, sagte sie mir, es seien hauptsächlich 30- bis 40-jährige Männer, die im Technologiebereich oder der Finanzwirtschaft arbeiten und wenig Zeit hätten, neben ihrem Job noch Freundschaften zu knüpfen. Es ist zwar gut, dass manche Menschen dadurch jemanden haben. Aber als Gesellschaft insgesamt riskieren wir, alle Beziehungen mit Transaktionen zu ersetzen.

These 7: Die zunehmende Verstädterung wird uns in Zukunft noch einsamer machen.

Hertz: Es ist eine spezielle Form der Einsamkeit, die mit dem Leben in der Stadt verbunden ist. Viele Menschen "flüchten" ja vom Land, um ein anonymeres Leben und mehr Privatsphäre in der Stadt zu haben. Diese Privatsphäre hat viele Vorteile, aber auch Nachteile: Wir wissen weniger über unsere Nachbarn und kennen weniger Menschen aus der direkten Umgebung.

Städte sind schneller als das Land. Das betrifft schon die Gehgeschwindigkeit der Menschen. Es gibt Studien, die zeigen: Umso reicher eine Stadt ist, desto schneller gehen ihre Einwohner. Es erscheint logisch, dass sich die Bewohner deshalb auch weniger stark verbunden fühlen. Es kann auch sein, dass wir in Städten einfach überwältigt sind von der Zahl an Menschen, denen wir jeden Tag begegnen, sodass es leichter fällt, gleich ganz abzuschalten.

These 8: Hätte die Kirche und der Glaube wieder einen höheren Stellenwert, wäre auch die Einsamkeit geringer.

Hertz: Die fallenden Zahlen an Menschen, die Mitglied der Kirche sind, ist sicher ein Faktor, der eine Rolle spielt, wie sehr sich Menschen einsam fühlen. Unterschiedliche Studien haben gezeigt, dass sich Menschen in religiösen Gemeinschaften meist verbundener fühlen.

Die Herausforderung besteht aber nicht darin, wie wir wieder mehr Menschen in die Kirche bringen, sondern wie wir die "Kathedralen" des 21. Jahrhunderts erschaffen. Wir müssen uns überlegen, wie wir geteilte Erfahrungen zwischen Menschen herstellen, sodass sich Menschen durch gemeinsame Aktivitäten miteinander verbinden. Kirchen sind nur ein Weg, diese Verbindungen herzustellen.

These 9: Am Ende ist jeder selbst dafür verantwortlich, wie einsam er sich fühlt.

Hertz: Natürlich liegt es auch an jedem selbst, etwas gegen die Einsamkeit zu unternehmen: Wir können bewusst unsere Handys öfter zur Seite legen, präsenter mit anderen sein, die täglichen Begegnungen suchen und uns dafür die notwendige Zeit nehmen.

Aber Einsamkeit ist vor allem auch ein gesellschaftliches Problem, für das es systemische Lösungen gibt. Es braucht mehr Orte, an denen sich die Menschen treffen können, wie zum Beispiel öffentliche Bibliotheken, Parks, Vereine, Tagesbetreuungen für ältere Menschen – Orte, die seit der Finanzkrise 2008 unterfinanziert sind.

Der Staat könnte kleine Geschäfte und Cafés mehr unterstützen, beispielsweise jenen Geschäften einen Steuervorteil bieten, die nachweislich etwas für die Gemeinschaft im Ort leisten und damit auch die Innenstädte wiederbeleben. Unternehmen können sichere Begegnungszonen schaffen, in denen sich die Mitarbeiter trotz der Pandemie austauschen und treffen können. (Jakob Pallinger, 3.5.2021)