Angeblich gibt es den Canaletto-Blick gar nicht. Es gibt zwar jene Perspektive hinunter auf die Stadt, die das Wiener Weltkulturerbe-Etikett maßgeblich definiert. Aber ganz exakt ist jener Blick, den der Maler Bernardo Bellotto, genannt Canaletto, Mitte des 18. Jahrhunderts vom Oberen Belvedere aus auf die Stadt festhielt, Auskennerinnen und Auskennern zufolge nicht: Ein paar Achsen und Kanten hat er angeblich versetzt oder verschoben.

Nachprüfen ginge leicht. Aber: Cui bono? Dass der Blick an sich unfassbar schön ist, bezweifelt ja niemand, und zu Beginn einer klassischen Sonntagsrunde habe ich anderes im Kopf als die Exaktheit eines Gemäldes: nichts nämlich. Weil es ums Kopfausleeren geht.

Thomas Rottenberg

Genau das ist ja das Schöne an den "langen Lockeren", den sogenannten Longruns: Es geht nicht um Tempo, nicht um Intensität, nicht um irgendeinen Beweis, sondern nur darum, unterwegs zu sein. Wenn der Weg das Ziel ist, wird Laufen gern "impressionistisch" – bei mir jedenfalls. Ein meditatives Mantra durch die sich ständig wechselnden und verändernden Bilder und Bühnen der Stadt.

Im Idealfall gibt es nicht einmal eine konkret geplante Route, sondern nur eine Idee.

Thomas Rottenberg

Letzten Sonntag war sie eher vage und "reduktiv": 30 ruhige Kilometer. Ich hatte von der Radrunde des Vortages müde Beine, wollte zwar nicht in den Wald, aber einen Hügel. Und das abseits der großen Trampelpfade um Donaukanal, Hauptallee, Insel und Alter Donau. Autolos "ab Haus" – eh klar.

Der Weg von der City ins Belvedere ergibt sich da recht automatisch. Dahinter, beim Gürtel, endet die Welt nur, wenn man Wien einzig in der Canaletto-Perspektive kennt. In Wirklichkeit beginnt sie dort aber erst.

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Denn "oberhalb" des Gürtels, hinter der Bahn, ist die Gegenwart. Vielleicht auch die Zukunft: Das Sonnwendviertel kenne ich aus meiner Kindheit und Jugend noch als wenig Vertrauen erweckende Bahn-Gstetten. Eine Qualtinger-Figuren-Welt, die einzig im Rückblick Charme hat – und sogar in der Erinnerung schwarz-weiß ist.

Aber vor allem ist es eine Welt, die es heute nicht mehr gibt.

Thomas Rottenberg

Denn auch auf dem Weg hinauf zum Laaer Berg, nach den klassisch-alten Ecken Favoritens, zeigt sich die Stadt als das, was Planer sich heute unter einer "Stadt für Menschen" vorstellen: als Großstadt mit Dichte und Türmen. Aber eben auch mit Platz und Raum und Luft – und neuen Achsen.

Achsen hat schon Canaletto gesehen, haben Fürsten und Herrscher seit jeher gedacht und geplant. Weil Blick und Weite wichtig sind.

Thomas Rottenberg

Wien ist eine grandiose Achsenstadt – bloß bekommt man das zu selten mit: Im Stau sieht man nur den Wagen vor sich, aus den Öffis den Straßenrand. Beim Spazieren geht das Fenster auf – aber beim Laufen aus dem Blick ein Weg, ein Stück Freiheit.

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Wie wichtig Freiflächen und -räume sind, zeigt uns die Pandemie: in Parks ebenso wie dort, wo Fläche zwischen den Häusern einfach frei gelassen wurde. Mit oder ohne Infrastruktur: Raum als Potenzial für Menschen und nicht als gratis Abstellfläche für Autos zu verstehen, macht einen Unterschied.

Falls Sie den spüren wollen: Hier, am Monte Laa, ist zwischen den Türmen auch nicht mehr Platz als in den Altbaustraßen und -gassen ein paar hundert Meter weiter. Es fehlen aber die beiden massiven, politisch in Wien immer noch sakrosankten Privatblechwälle im öffentlichen Raum, a.k.a. "Parkspuren".

Da Platz zu schaffen geht aber. Man muss dafür aus Wahlkampf- und Klimahülsen lediglich gelebte Politik machen: Wer Raum für Menschen, für Kinder, wer eine Stadt mit lebenswertem Klima verspricht, kann Platz nicht dazuerfinden, er oder sie muss ihn neu verteilen. Und sollte irgendwann endlich damit beginnen.

Thomas Rottenberg

Aber natürlich kann man sich immer rausreden. Gerade in Wien geht das leicht. Schließlich kommt nach den Siedlungen und der Dichte ja eh Grünland. Erholungsraum – sozialhistorische Freizeit- und Befreiungsgeschichte inklusive. Schließlich sind die Wurzeln des Böhmischen Praters mittelbar mit der Geschichte der sozialen Errungenschaften der Stadt verbunden: Die semi-versklavten Ziegelarbeiter der Favoritner und Wienerberger Lehmgründe kamen hierher, um sich zu erholen. Ihre Arbeit ist das Fundament der heutigen Stadt und ihre Arbeitsbedingungen der Grundstein vieler heute selbstverständlicher Sozial- und Wohnbasics. Dennoch ist der Böhmische Prater heute wieder ein Geheimtipp. Nicht nur im Lockdown.

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So wie die Weite dahinter. Die Kuppe gehört zur Grube, der Löwygrube. Natürlich sind hier Menschen (und die Kickboxer stimmten dem Fotografiertwerden ausdrücklich zu). Aber gemessen an der Nähe zur Stadt und zur Bevölkerungsdichte der Wohnviertel in der unmittelbaren Favoritner und Simmeringer Umgebung ist hier nichts los.

Dabei ist die Anreise keine Challenge: Spazierend, mit Öffis oder Rad schafft das jeder und jede – und die Parkplätze ringsum sind sogar an einem sonnigen Frühlingssonntag nur halbvoll: Wien hat diese Ecke seiner selbst noch nicht ganz entdeckt. Obwohl der Blick auf die Stadt – auch die des Herrn Canaletto – von hier aus ein Hammer ist.

Thomas Rottenberg

Aber um das zu sehen, müssen Sie selbst herkommen: Ich lief und schaute Richtung Osten. Den Hügel hinunter in die "Prärie". So nennt Kurt Stefan, der Chef der Edelradschmiede Veletage, die Landschaft, die hier beginnt und sich über Schwechat bis ans Leithagebirge und dann bis in den Seewinkel und darüber hinaus erstreckt: ein endloses Netz an Feld- und Schotterwegen, das "Gravelparadies" südlich der Stadt.

Thomas Rottenberg

Ich bin hier, weiter westlich, am Wienerfeld, aufgewachsen. Meine erste Freundin lebte in Simmering, beim Schloss Neugebäude: Dass meine Radtouren über die Felder einmal "graveln" heißen würden, hätte ich nie gedacht.

Thomas Rottenberg

Auch dass der Zentralfriedhof eine traumhaft schöne Laufzone ist, habe ich erst Jahrzehnte später gelernt. Wiens größte "Siedlung" ist ein spannender und von seinen VerwalterInnen bewusst intensiv bespielter Lebensraum: Von der Konditorei über E-Leihräder bis zu ausgeschilderten Laufrouten gibt es hier alles.

Neu für mich (und demnächst – Obacht: Spoileralarm – am Rande einer großen Geschichte über Wientourismus für WienerInnen im Print-STANDARD zu lesen) ist, dass sich auch fremde Wien-Fans hier "niederlassen" können: Eine japanische Firma bietet Gräber gleich neben Beethoven, Schubert, Strauß und Brahms an. 310 wären noch frei.

Thomas Rottenberg

Nach dem Friedhof kommt Schloss Neugebäude. Die Urnengräber dort und (hier im Bild) der Tierfriedhof sind auch ein Stück Wien, das kaum ein Wiener, kaum eine Wienerin kennt. Und bevor Sie wegen der Grabstätten für Hund, Katz und Meersau grinsen: Lassen Sie das. Trauer ist zu persönlich, Schmerz zu individuell, um sich darüber zu mokieren. Wenn es Menschen Trost und Halt gibt, am Grab eines Pudels zu verweilen, dann ist das gut und richtig so – egal ob Sie oder ich das verstehen oder nachvollziehen können.

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Was folgt, ist Wiens Gemüsekammer. Eine Zone, in der ich mich regelmäßig verkoffere. Schuld bin natürlich nicht ich, weil ich zu selten hier bin oder planlos-intuitiv laufe: Schuld ist die Stadt. Denn hier sind Radwege und -routen "random" ausgeschildert. Radrouten? Ja, die kleinen grünen Schilder, die zu regionalen Zielen führen, sind auch beim Laufen hilfreich.

Thomas Rottenberg

Doch hier, zwischen den Glashäusern, weisen sie halt ganz gerne von den Hauptverkehrsrouten launig ins Gelände – und fehlen dann dort, wo der Nebenweg sich gabelt und nicht logisch weitergeht, gänzlich. Egal: So sieht und erlebt man mehr …

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… und kommt irgendwann trotzdem wieder in Zonen, die für das Image von Bezirken wie Simmering in meinem heutigen Soziotop stehen: Ich komme aus einer ähnlichen Gegend. Weiß, dass es hier in Wirklichkeit längst nicht so grimmig, prollig, bildungsfeindlich und perspektivlos ist, wie Klischee, Narrativ und "Von-oben-herab-Reportagen" gern suggerieren. Weiß, dass diese Wohnbauten wichtig waren und sind – und man heute eh anders baut. Aber trotzdem: Nein, ich will nicht zurück. Nie wieder.

Thomas Rottenberg

Aber dann ging es eh schon wieder zurück zum gewohnten Spielplatz, in den Prater. Ja, ich wollte den "Beaten Tracks" an diesem Tag ausweichen. Ich hatte keine Lust auf die an einem Tag wie diesem unvermeidlichen Menschenmassen auf dem "Strip", der PHA (Prater-Hauptallee), die nebenbei auch eine Hammer-Achse ist.

Thomas Rottenberg

Andererseits ist es halt auch fein, nach 22 Kilometern Einsamkeit am "Dorfplatz" laufend abzuhängen. Man trifft immer jemanden, kann plaudern, lästern, gaffen: Laufen hat auch eine soziale, amikale Komponente. Auf die stehe ich genauso – erst recht, wenn der Weg heute ab der Hälfte beständig in den Gegenwind führte.

Thomas Rottenberg

Im Stadtpark, ziemlich genau beim Walzerkönig, sprang der Tacho auf 28. Das sind zwar keine 30 Kilometer, aber auf die letzten beiden K.s hatte ich schlicht und ergreifend keine Lust mehr. Die hätten mich zwar auch eine hübsche Achse – über den Wienfluss zum Karlsplatz und dann den Naschmarkt – entlang geführt, aber Biss, Lust und Luft waren draußen – und beim Espressowagerl stand wie durch ein Wunder gerade niemand an: Manchmal darf man den inneren Schweinehund ruhig gewinnen lassen – gerade an einem sonnigen Sonntag im Frühling.

Thomas Rottenberg

Die Route auf ...

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(Thomas Rottenberg, 27.4.2021)

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Thomas Rottenberg