Am Rathausplatz 3 steht ein Haus leer. Am Montag wurde das Gebäude für einige Stunden besetzt.

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Am Wiener Rathausplatz wurde am Montag für einige Stunden ein leerstehendes Haus besetzt. Die Aktivistinnen und Aktivisten wollten damit gegen die Asylpolitik und gegen die Situation am Wohnungsmarkt protestieren. Die Sozialwissenschafterin Sarah Kumnig forscht zu Mieterprotesten. Sie erklärt, warum es in Wien vergleichsweise wenige Protestformen gibt – und wie die Nachbarschaft auf ein besetztes Haus reagiert.

STANDARD: Welche Rolle spielen Hausbesetzungen in Wien?

Kumnig: In den letzten Jahren haben immer wieder Besetzungen stattgefunden. Teilweise durch Menschen, die dringenden Wohnbedarf hatten. Teilweise waren es aber auch Protestaktionen, wie eben auch gestern (am Montag, Anm.), um auf Missstände hinzuweisen. Ich glaube, dass solche Aktionen wichtig sind, um gesellschaftliche Widersprüche aufzuzeigen: Wir sehen jeden Tag, dass Häuser leer stehen und gleichzeitig Menschen auf der Straße schlafen müssen. Menschen werden in Kriegsgebiete abgeschoben, dringend notwendige Notquartiere werden geschlossen. Das sollte nicht als Normalität akzeptiert werden.

STANDARD: Viele wussten nicht, dass auf dem Rathausplatz ein ganzes Haus leer steht.

Kumnig: Und jetzt wissen es mit einem Schlag viel mehr Leute. Man zeigt mit einer Hausbesetzung auch die Auswirkungen einer neoliberalen Wohnungspolitik auf. Wohnraum wird immer mehr zu einem Finanzmarktprodukt, bei dem es nicht mehr in erster Linie darum geht, die Wohnungen zu nutzen, sondern sie als Anlageobjekt zu verwenden und möglichst hohe Gewinne damit zu machen. Solche Protestaktionen sind letztendlich auch für Stadtregierungen, die eine progressive Wohnpolitik verfolgen, eine Chance, Veränderungen herbeizuführen. Die Siedlerbewegung vor über 100 Jahren war ja auch einer der Anstöße für das Rote Wien und den Bau von Gemeindewohnungen. Das Haus, das gestern (am Montag, Anm.) besetzt wurde, ist ein prunkvolles Haus in der Innenstadt. Es war der perfekte Ort, um diese Inhalte zu deponieren und zu transportieren.

STANDARD: Wie wird in anderen Städten mit Hausbesetzern und Hausbesetzerinnen umgegangen?

Kumnig: In manchen Ländern muss man nachweisen, dass man eine bestimmte Zeit in einem Gebäude gelebt hat, um darin weiter bleiben zu können. Eine Legalisierung von Besetzungen wäre ein gutes Instrument gegen spekulativen Leerstand. Dann würden sich Eigentümerinnen und Eigentümer zweimal überlegen, ob sie ihre Immobilien leer stehen lassen – oder ob sie sie doch vermieten, zu einem Preis, den sich die Menschen auch leisten können.

STANDARD: Wie werden solche Hausbesetzungen eigentlich im Grätzel aufgenommen?

Kumnig: In den letzten Jahren wurde bei Hausbesetzungen in Wien von den Akteurinnen und Akteuren ganz stark versucht, auch die Nachbarn einzuladen, das Haus zu öffnen und sich gemeinsam zu überlegen, wie das Haus genutzt werden könnte. Und die Nachbarschaft reagiert oft auch mit großem Interesse. Die meisten spüren ja auch selbst die steigenden Mieten und die Gentrifizierungstendenzen. Aber natürlich ist bei vielen Menschen stark verinnerlicht, dass Eigentum beschützt werden muss – und dass man nicht einfach in ein Haus reingehen soll, das einem nicht gehört. Bei Besetzungen geht es aber genau darum, diese Eigentumslogik zu hinterfragen und aufzuzeigen, dass viele Häuser gar nicht genutzt werden, während Menschen dringend Wohnraum brauchen. Besetzer und Besetzerinnen als gefährliche schwarz vermummte Personen darzustellen, vor denen man Angst haben soll, ist eine Strategie, um diese Aktionsform zu delegitimieren.

STANDARD: Welche anderen Protestformen stehen Mieterinnen und Mietern denn zur Verfügung?

Kumnig: In anderen Städten gibt es zum Beispiel starke Proteste gegen Zwangsräumungen. Da kommt teilweise die ganze Nachbarschaft zusammen und blockiert die Räumung. Manchmal gelingt das, manchmal nicht. Das ist wieder eine Methode um einen Missstand sichtbar zu machen: Es werden Leute aus ihren Wohnungen geworfen, die dann auf der Straße stehen. Da stellt sich die Frage, ob es bei Wohnraum um die Befriedigung eines Wohnbedürfnisses gehen sollte oder um den Gewinn des Eigentümers oder der Eigentümerin. Noch dazu weiß man ja, dass ein Wohnungsverlust nicht nur für die betroffene Person katastrophal ist, sondern gesamtgesellschaftlich auch mehr Kosten verursacht, als wenn Menschen in ihren Wohnungen bleiben können.

STANDARD: International wird Wien oft als Paradies für Mieterinnen und Mieter gesehen. Stimmt das noch?

Kumnig: Für Menschen, die schon lange in Wien wohnen, ist die Situation tatsächlich nicht schlecht, weil sie oft unbefristete, günstige Mietverträge haben oder eine Gemeindewohnung. Wer aber neu in die Stadt kommt oder umziehen muss, für den wird es immer schwieriger, eine leistbare Wohnung zu finden. Am privaten Wohnungsmarkt steigen die Preise, und der soziale Wohnbau ist für viele nicht zugänglich. Mitten in der Pandemie wird jetzt, wie bei der Hausbesetzung gestern (am Montag, Anm.) kritisiert, auch noch eine Notunterkunft in der Gudrunstraße geschlossen. Trotzdem hält sich die Erzählung vom sozialen Wien. (Franziska Zoidl, 28.4.2021)