Österreichs Bundespräsident Alexander Van der Bellen zeigte sich am Dienstag beeindruckt vom Engagement Swetlana Tichanowskajas, die seit Monaten "mutig und beharrlich" für Wandel in ihrem Land kämpfe.

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Im August 2020 kandidierte Swetlana Tichanowskaja bei der Präsidentschaftswahl in Belarus gegen Langzeitmachthaber Alexander Lukaschenko. Ihr Mann Sergej Tichanowski, der ursprünglich antreten wollte, war da bereits in Haft. Lukaschenko erklärte sich nach der Wahl, die auch von der EU nicht als rechtmäßig anerkannt wird, mit 80 Prozent der Stimmen zum Sieger. Tichanowskaja floh ins Exil nach Litauen, wo sie seither die Proteste in ihrer Heimat unterstützt. Derzeit wirbt sie in Wien für Ihre Anliegen.

STANDARD: Was erwarten Sie sich von Ihrem Besuch in Wien?

Tichanowskaja: Ich will über die Eskalation der Gewalt in meinem Land informieren. Die Krise wird tiefer, und wir suchen nach Wegen, sie zu beenden. Um unser Ziel zu erreichen, nämlich Neuwahlen, müssen wir mit dem Regime verhandeln. Dieses reagiert aber nicht auf unsere Gesprächsangebote und bezeichnet mich als Terroristin. Doch wir geben nicht auf. Wir suchen Leute, die bereit sind, als Vermittler Verantwortung zu übernehmen.

STANDARD: Und diese Suche führt Sie nach Österreich?

Tichanowskaja: Die beste Plattform für Verhandlungen wäre vermutlich die (in Wien ansässige, Anm.) OSZE, in der auch Belarus Mitglied ist. Vermittler müssen zudem auch mit Vertretern Russlands kommunizieren können. Russland muss bei solchen Verhandlungen dabei sein. Es ist unser Nachbarland, und wir sind uns der wechselseitigen Verbindung bewusst. Österreich könnte beim Vermitteln eine Führungsrolle übernehmen. Es ist ein neutrales Land, hat – nein, hatte – gute Beziehungen zu Belarus und hat auch gute Beziehungen zu Russland.

STANDARD: Sie haben öffentlich auch bereits über die Rolle österreichischer Unternehmen in Belarus gesprochen. Worauf wollen Sie hinaus?

Tichanowskaja: Da geht es um Unternehmen wie die Raiffeisenbank oder A1. Wir wollen über ihre Rolle sprechen, darüber, wie ihre Geschäfte als Hebel zur Einflussnahme auf das Regime benutzt werden können. Wir wollen natürlich nicht unsere Wirtschaft ruinieren, sondern ein prosperierendes Land aufbauen, in das Investitionen fließen. Und es ist uns klar, dass es das Regime war, das die Abschaltung des A1-Signals während Demonstrationen veranlasst hat. Aber die Firmen müssen selbst entscheiden, ob nur das Business für sie wichtig ist oder auch die demokratischen Werte, die damit verbunden sind. Und sie müssen selbst entscheiden, welche Bedingungen sie für ihre Kooperation mit dem Regime stellen könnten.

STANDARD:Wie würden Sie die aktuelle Situation in Belarus beschreiben? Viele Kundgebungen wurden ja brutal niedergeschlagen, zuletzt scheinen die Proteste leiser geworden zu sein.

Tichanowskaja: Proteste und Demonstrationen, das sind zwei verschiedene Dinge. Kundgebungen sind nur der sichtbare Teil einer Protestbewegung. Natürlich war es inspirierend, die schönen Bilder von den demonstrierenden Frauen in Weiß zu sehen, mit Blumen und Ballons. Aber viele glauben, dass die Menschen aufgegeben haben, wenn es diese Bilder nicht mehr gibt. Das ist genau das, was das Regime will. Deshalb wurden Journalisten verhaftet und Social-Media-Kanäle blockiert. Aber die Protestbewegung hat auch andere Aspekte.

STANDARD: Wie sehen die aus?

Tichanowskaja: Menschen versammeln sich etwa zu Flashmobs. Vieles findet aber eher im Verborgenen statt. Die Leute bilden Strukturen wie Streikkomitees oder Gewerkschaften. Sie vernetzen sich, tauschen Meinungen aus, sind kreativ. Sie sprechen mit Nachbarn, verteilen Untergrundzeitungen, schreiben Briefe an politische Gefangene. Sie kaufen Essen und bringen es Aktivisten oder Familien von Inhaftierten oder geben ihnen Geld, damit sie Anwälte bezahlen können. Der Protest geht weiter. Ich sage immer: Macht keine Politik auf Basis der Bilder! Menschen werden in den Gefängnissen weiter gefoltert, also macht Politik auf Basis von Werten!

STANDARD: Wie sehen Sie sich eigentlich selbst? Als Anführerin der Opposition?

Tichanowskaja: Ich mag das Wort Opposition nicht. Es ist das Regime, das uns so nennt. Wir sind das belarussische Volk! Wir sind die Mehrheit! Manche nennen mich gewählte Präsidentin, aber das spielt keine Rolle. Ich weiß, dass ich die Wahl gewonnen habe, aber es geht mir nicht um Macht. Ich will den Menschen in meinem Land helfen. All diese hochkarätigen Treffen, die ich absolviere, sind zwar wichtig. Aber sie sind nicht wichtiger als die Aktivitäten der Menschen in Belarus. Ich mache hier, was ich kann, und sie machen dort, was sie können.

STANDARD: Ihr Team betont, dass es bei den Protesten um Demokratie geht, nicht um eine Entscheidung zwischen Russland und dem Westen. Kann die Geopolitik ausgespart werden?

Tichanowskaja: Wir sind eine eigene Nation, mit einer eigenen Identität und einer eigenen Sprache. Wir haben eine gute geografische Lage, einen starken IT-Sektor, wunderbare, hart arbeitende Menschen. Wir wollen die guten Beziehung zu Russland behalten, aber wir wollen auch, dass diese Beziehung transparenter wird. Derzeit spielen sich Absprachen und Deals hinter verschlossenen Türen ab. Lukaschenko muss sich die Unterstützung des Kreml erkaufen – aber wir wissen nicht, was er dabei verkauft.

STANDARD: Würden Sie bei freien Wahlen wieder selbst antreten?

Tichanowskaja: Laut derzeitigem Stand würde ich nicht kandidieren wollen. Wir haben viele hervorragende Leute, die für das Präsidentenamt geeignet wären. Ich würde meinen Mann wählen, wenn er kandidieren will. Aber seine Meinung kenne ich ja zurzeit nicht. (Gerald Schubert, 27.4.2021)