Bundespräsident Alexander Van der Bellen rief anlässlich des Jahrestages der Unabhängigkeitserklärung Österreichs am 27. April 1945 zur Zusammenarbeit der Parteien auf. Damals, nach dem Zusammenbruch der NS-Herrschaft in Österreich, legten "alle Parteien den Grundstein für die österreichische Erfolgsgeschichte" (die Parteien waren ÖVP, SPÖ und KPÖ).

Das ist schön, aber noch schöner wäre es, würde das Staatsoberhaupt deutlich Stellung nehmen zur Verlotterung von Rechtsstaat und parlamentarischer Demokratie, die soeben unter türkisen Regie stattfindet.

Bundespräsident Alexander Van der Bellen.
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Bundeskanzler Sebastian Kurz hat soeben dem Verfassungsgerichtshof (VfGH) eine ausgewachsene lange Nase gezeigt. Das Höchstgericht forderte ihn auf, Akten, E-Mails und Chatnachrichten vorzulegen, die für den Untersuchungsgegenstand des Ibiza-Ausschusses ("vermutete Käuflichkeit der schwarz-blauen Regierung") relevant wären. Kurz sagte zuerst, er habe eh schon alles Relevante geliefert (was er nicht zu entscheiden hat), und nun übermittelte er fristgerecht dem VfGH 692 Mails von Kanzleramtsmitarbeitern, indem diese (freiwillig?) bestätigten, dass sie nichts gefunden haben. Ein Hohn. Donnerstag wird der VfGH darüber beraten.

Diese "rotzfreche" (Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger) Vorgehensweise reiht sich harmonisch in einen Katalog von Missachtung und aktiver Behinderung demokratischer Kontrolle durch den türkisen Regierungspartner.

Vor kurzem erklärte Nationalratspräsident (!) Wolfgang Sobotka, er könne sich vorstellen, dass in parlamentarischen Untersuchungsausschüssen die Wahrheitspflicht für die Auskunftspersonen entfällt. Dann müssten sie nicht so oft sagen, sie könnten sich nicht erinnern (wie Kurz und Gernot Blümel). Ein Zynismus der Sonderklasse, unwürdig eines Präsidenten des Hohen Hauses.

Korruptionsbekämpfung

Vorher hatte das türkise Innenministerium versucht, über das grüne Justizministerium hinweg die Möglichkeiten von staatsanwaltschaftlich angeordneten Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmungen von Amtsträgern zu killen. Das wäre das Ende jeder ernst zu nehmenden Korruptionsbekämpfung im öffentlichen Sektor.

Schon vorher sollte die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft zerschlagen werden, nachdem Bemühungen hoher Justizfunktionäre, sie auf administrativem Wege zu behindern, gescheitert waren.

Einige dieser Anschläge, vor allem die auf die Justiz, wurden bisher vom grünen Koalitionspartner, vor allem vom Justizminister pro tempore Werner Kogler, halbwegs abgewehrt. Da scheint es wirklich eine rote Linie zu geben. Aber das spielt sich sozusagen im Halbdunkel ab. Notwendig wäre eine klare, grundsätzliche Aussage des Staatsoberhaupts, was geht und was nicht.

In den sozialen Medien melden sich schon länger Angehörige des politisch-journalistischen Komplexes, die von Van der Bellen einen entsprechenden Schritt erwarten. Das kann man als Blasenphänomen betrachten – oder als unterirdisches Grummeln.

Ein österreichischer Bundespräsident muss mit seinen Ermahnungen und vielleicht sogar Forderungen sparsam sein, sonst nutzt sich das ab. Aber manchmal geht es um die demokratische und rechtsstaatliche Kultur. Es ist Zeit. (Hans Rauscher, 28.4.2021)