"Es ist eine lebensgefährliche Gegend, denke ich mir, sie ist schon immer lebensgefährlich gewesen, nicht nur jetzt in dieser verseuchten Zeit."

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Etwas schreiben: Fische küssen. Was sonst noch schreiben, wenn einem das Schreiben die Sprache verschlägt? Wohin verschwinden die Worte, wenn man sie für die Beschreibung eines Jahres braucht, in dem fast täglich die Angst unter der Schädeldecke saß und Angst vor der Angst hatte? Ein Jahr, das uns immer wieder Klumpen zwischen die Füße warf.

Als ich Kind war, hat es in dem Dorf, in dem meine Eltern immer noch leben, nicht nur Kühe und Berge gegeben, sondern auch den unvermeidlichen Kirchgang am Sonntag, der sich vor den Bergen abspielte, während die Nebel durch die Bäume in die Höhe stiegen oder in die Tiefe fielen.

Es waren Berge, auf denen selbst im Sommer manchmal noch Schnee klebte. Und Blut. Berge, die die Sehnsucht noch größer werden ließen, weil immer irgendwer hinter den Bergen wartete, wer auch immer es war: Als Kind waren es die Märchen, als Erwachsene waren es die Menschen und die fernen Orte.

Aufgewachsen bin ich als Kümmergewächs in einer Gastwirtschaft. Das Gasthaus haben die Eltern irgendwann verkauft, und wir zogen ins Nachbardorf, das nicht nur geografisch auf der Schattenseite des Tals lag. Die Berge waren auf der Schattenseite noch bedrohlicher und näher, und der Himmel war dort nicht immer ein Himmel auf Erden.

Es ist eine lebensgefährliche Gegend, denke ich mir, sie ist schon immer lebensgefährlich gewesen, nicht nur jetzt in dieser verseuchten Zeit. Das enge Tal und die hohen Berge waren seit jeher Nährboden für Selbstmordkinder und andere schlimme Schicksale.

Bergnachtschwarz

Unweigerlich muss ich an den kleinen Buben denken, der vor langer Zeit mit seinen sechs Jahren in die Berge ging, in diese mörderischen Berge, und dort herumirrte, bis es dunkelte und das aufdringliche Schwarz und die gefährliche Kälte der Nacht nach ihm griffen, bis sich der kleine Bub, weil er nicht mehr weiterwusste, in dieses Bergnachtschwarz legte, sich schlafen legte, zuvor noch seine Kleider auszog, wie er es zu Hause immer tat, und sie neben seine Schlafstatt legte, fein säuberlich zusammengefaltet, auch die Schuhe, ganz ordentlich, einen Schuh neben dem anderen, der sechsjährige Bub, der sich ins Schwarz der Berge neben seine Kleider legte und nicht mehr aufwachte, weil er die Kälte nicht überlebte. Viele Jahre ist es her.

Und jetzt das Coronatier. Ich könnte jetzt Witze zur Aufheiterung schreiben, damit das alles nicht zu schwer wird hier. Ich könnte auch eine virtuelle Fliegenpilzsuppe kochen, damit wir alle den Mond heller und voller sehen. Vollmondkind, das ich bin, denke ich noch schnell an die Reise nach Krumlov in einer Zeit, als das Reisen noch möglich war. Wir sind damals ganz für uns nach Tschechien gefahren, wobei ich ja immer wegen der Literatur und wegen des Schreibens irgendwo hinfahre und wegen der Kunst und wegen der Liebe.

Die Fahrt nach Krumlov war wie ein versuchter Versuch über die Abwesenheit der Zeit mit diesem tschechischen Zug, der irgendwo in der Einsamkeit stehen geblieben und nicht mehr weitergefahren ist. Die Menschen darin: Fremde zuerst, die immer mehr zu Vertrauten wurden. Am Himmel ein Schwarm Vögel, der nach Süden flog.

Konkrete Bedrohung

Nichts weiter geschah, und trotzdem geschah alles. Die Zugbegleiter wurden nervös, die Reisenden waren gelangweilt. Dann fuhr der Zug wieder ein Stückchen, ruckelte, blieb stehen, fuhr, ruckelte und blieb stehen. Die Zugbegleiter wurden nervöser, die Reisenden genervt. Im Hintergrund die tschechische Abgeschiedenheit.

Es geschah noch immer nichts, und dieses Nichts zog sich in die Länge, breitete sich aus, weil schon alles geschehen war, damals, als wir noch nichts von der Seuche wussten, die uns kurze Zeit später unvorbereitet überwältigte.

Niemand gab uns, was uns dieses keinesfalls leichtfertige Jahr gab: die unendlichen Aufregungen und Erregungen, das Festhalten, Loslassen, Erahnen und Wissen, die Schmerzen, die sichtbaren, die unsichtbaren, die Tage und Nächte und Mondlandungen, all die Farben und Nichtfarben, das Gelbe, das Rote und das Schwarz und die Regentage.

Das Leben war plötzlich nicht mehr das, das es zuvor gewesen war – und zwar nicht nur für eine Einzelperson, sondern für alle. Jeder hat seine Erfahrungen mit der Krankheit gemacht, für viele sind es unerträgliche.

Vieles, was bisher alltäglich war, ist mit einem Mal unmöglich geworden, ein Ausnahmezustand löste den anderen ab. Die Krankheit bekam eine immer schwerere weltweite Bedeutung. Unsichtbares blieb nicht nur unsichtbar, Unsichtbares wurde zu einer konkreten Bedrohung, zu etwas Traurigem in einer traurigen Zeit. Zu Leerstellen, die jetzt behutsam aufzufüllen sind. (Andrea Drumbl, 30.4.2021)