Die Geschichte des Antisemitismus in Deutschland ist eng verwoben mit Nationalismus und Identitätsfindung. Der renommierte Historiker Peter Longerich hat in seinem neuen Buch die Entwicklung des Antisemitismus seit dem 18. Jahrhundert untersucht – ein Prozess der Radikalisierung und ständigen Wandlung, der schließlich zum Holocaust führte. Doch auch nach 1945 entwickelt sich der Antisemitismus weiter und bleibt erhalten. Gewaltakte wie der Anschlag in Halle 2020 und antisemitische Parolen auf Demos gegen die Corona-Maßnahmen zeigen eine Kontinuität im Antisemitismus.

STANDARD: Sie beschreiben die Geschichte des Antisemitismus als ein Wechselspiel von Kontinuität und Wandlungsfähigkeit. Wie sieht diese Wandlungsfähigkeit aus?

Longerich: Wenn eine Minderheit immer ausgegrenzt und diskriminiert wird, dann stellt sich die Frage nach der Verfasstheit der Mehrheit. In der Geschichte der deutschen Nation in den letzten zwei Jahrhunderten gibt es erhebliche Unterschiede in der nationalen Identitätsbildung. Das fängt mit der frühen Nationalbewegung an, geht über das Kaiserreich, die Weimarer Republik und den Nationalsozialismus bis hin zu den Versuchen in der Nachkriegszeit, wieder eine Identität neu zu begründen. Entsprechend dem Wandel des Identitätsgefühls verändert sich auch die Einstellung zu den Juden.

Peter Longerich (Jahrgang 1955) ist Zeithistoriker und für seine umfassenden Studien zum NS-Staat sowie Biografien bekannt.
Foto: ©Leonie Lallemand

STANDARD: Es gibt auch eine Kontinuität im Antisemitismus.

Longerich: Die Antisemiten bauen im Laufe der Zeit ein Arsenal sogenannter "Argumente" gegen die Juden auf. Ausgangspunkt ist die religiöse Ablehnung, die im modernen Antisemitismus erhalten bleibt. Dann geht es vor allem um die Juden als wirtschaftliche Konkurrenten, als Träger des Modernisierungsprozesses und schließlich vor allem um ihre wahrgenommene kulturelle Fremdheit, ihre angebliche Illoyalität als Staatsbürger. Diese Linien ziehen sich durch und treten in immer neuen Varianten auf.

STANDARD: Ist erst einmal ein antisemitisches Grundgefühl vorhanden, kann es um immer weitere Facetten erweitert werden?

Longerich: Das ist das Entscheidende, dass es zum einen die radikale antisemitische Bewegung gab, die die Emanzipation der Juden zunächst verhindern und dann rückgängig machen wollte. Daneben gibt es eine breit verwurzelte Judenfeindschaft, die "normal" gewordenen Vorurteile werden immer weiter verfestigt. Für einen durch die Kirche geprägten Judenfeind ist der rassistische Antisemitismus eher eine Bestätigung seines eigenen "Wissens", obwohl sich beide Varianten von ihren Ansätzen her eigentlich gegenseitig ausschließen.

STANDARD: Irgendwann werden antisemitische Positionen und der Kampf gegen ein politisches System verknüpft?

Longerich: Modern ist die antisemitische Bewegung im Kaiserreich, weil sie Parteien, Verbände und Massenpresse ausgebildet hat und kontinuierlich auftrat. Davor hatten sich Judenfeinde eher in Kampagnen organisiert. Die Antisemiten im Kaiserreich glaubten, dass sie ihre Forderungen innerhalb des politischen Systems durchsetzen konnten. In der Weimarer Republik verschärfte sich nun die Situation, weil die radikalen Antisemiten die "Judenrepublik" abschaffen wollten.

STANDARD: Die Debatte wird mit Deutlichkeit geführt, schon früh will man Juden verschicken oder "ausrotten". Wann wandelt sich die Judenfeindschaft zu einer gewaltsamen "Judenfrage"?

Longerich: Die Idee der Vertreibung oder auch der "Ausrottung" taucht seit dem Beginn der Emanzipationsdebatte Ende des 18. Jahrhunderts auf, ohne dass damit allerdings konkrete Maßnahmen verbunden waren. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts verdichten sich solche Äußerungen.

STANDARD: Es kommt zu Gewaltaktionen.

Longerich: Die Geschichte des modernen Antisemitismus wird von Gewaltwellen durchzogen. Das hat es im 18. Jahrhundert nicht gegeben. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts richten sich solche Gewaltausbrüche primär gegen jüdisches Eigentum. Auch wenn es zu körperlichen Misshandlungen kommt, besteht nicht die Absicht, Juden zu ermorden, wie das im 20. Jahrhundert der Fall gewesen ist. Es handelt sich um kollektive Demütigungen der lokalen Juden. Gewalt ist insofern eine ganz wichtige Linie in der antisemitischen Politik.

Das Berliner Holocaust-Mahnmal bei einer Gedenkfeier im Jänner 2021.
Foto: Stefan Boness/Ipon via www.imago-images.de

STANDARD: Welche Rolle spielte der Antisemitismus im politischen Werkzeugkasten der Nationalsozialisten?

Longerich: Die Nationalsozialisten waren radikale Antisemiten, die das Ziel verfolgten, die Emanzipation rückgängig zu machen, und dies dann durchgesetzt haben. In der politischen Taktik fuhr die NSDAP ihre antisemitische Propaganda etwas zurück, als sie Anfang der 30er-Jahre eine Massenbewegung wurde, weil die Zahl der radikalen Antisemiten geringer war als ihr Wählerpotenzial.

STANDARD: Relativ rasch gibt es nach 1933 mehrere Wellen antisemitischer Maßnahmen, obwohl die Unterstützung einer radikalen "Judenpolitik" noch nicht so da war?

Longerich: Ja, wobei man hinzufügen muss, dass für einen Wähler der NSDAP klar gewesen sein musste, dass da etwas unternommen wird, wenn die Nazis an die Macht kommen. Es ist tatsächlich so, dass die "Judenpolitik" der Nationalsozialisten in der Bevölkerung regelrecht durchgesetzt werden muss, die große Mehrheit hat sich passiv dazu verhalten.

STANDARD: Welchen Effekt hat es, wenn Nationalsozialisten Nachbarländer annektieren, die bereits eine ähnliche Einstellung hatten? Wie machen sie sich diesen bestehenden Antisemitismus zu eigen?

Longerich: Die Entstehung des NS-Regimes nach 1933 und seine "Judenpolitik" hat natürlich eine Ausstrahlung gehabt auf eine ganze Reihe von Staaten, dazu gehört auch Österreich. In diesen Ländern setzten starke faschistische Bewegungen das konservative Establishment unter Druck, auch zu einer antijüdischen Politik überzugehen. Ich denke diese Entwicklung ist aber ohne die deutsche Schrittmacher-Funktion kaum denkbar.

"Der traditionelle Antisemitismus ist langsam zurückgegangen, aber nicht verschwunden."

STANDARD: Was passiert mit dem vorhandenen Grundantisemitismus nach 1945?

Longerich: Die zwölf Jahre des Nationalsozialismus hatten einen Effekt in der Bevölkerung, die Antisemitismus-Werte in der Nachkriegszeit waren relativ hoch. Dieser traditionelle Antisemitismus ist langsam zurückgegangen, aber nicht verschwunden. Das Interessante ist, dass der Antisemitismus in der Öffentlichkeit tabuisiert wurde, aber unterirdisch in den Familien und Vereinsstrukturen weiter tradiert wurde. Es kommen jetzt neue Formen dazu – was man als sekundären Antisemitismus bezeichnet. Zum einen wird versucht, die Erinnerung an den Holocaust als ein jüdisches Propagandaunternehmen darzustellen; zum anderen gibt es eine Form von sehr heftiger und überzogener Kritik an dem Staat Israel, in der auch sehr deutlich antisemitische Motive nachweisbar sind. Es zeigt sich hier also der Versuch, die nationalsozialistischen Verbrechen irgendwie aufzurechnen.

Peter Longerich, "Antisemitismus: Eine deutsche Geschichte. Von der Aufklärung bis heute". € 35,– / 640 Seiten. Siedler-Verlag, München 2021

STANDARD: Wir haben in Deutschland wie Österreich Protestbewegungen gegen die Maßnahmen der Corona-Pandemie. Erkennen Sie hier Muster aus der Geschichte des Antisemitismus?

Longerich: Es gibt gute Argumente, die dafür sprechen, dass wir in einer Phase leben, in der der Antisemitismus wieder in eine neue Ära eintritt, eine Art globaler Antisemitismus, in dem sich der Nahostkonflikt, die allgemeine Krisenstimmung der kapitalistischen Gesellschaft und jetzt die Verunsicherung durch die Pandemie verbinden mit Verschwörungstheorien. Kein Wunder, dass hier der Antisemitismus anknüpfen kann: Er ist ja an sich die größte Verschwörungserzählung des 19. und 20. Jahrhunderts. Diese immer neuen Verbindungen sind typisch für die Geschichte des Antisemitismus in diesem Zeitraum.

STANDARD: Man baut auf bekannten Mustern auf.

Longerich: Die Vorstellung, dass diese Pandemie das Werkzeug einer stark von den Juden beeinflussten Weltverschwörung ist, die uns alle in ein Sklavendasein versetzen will, knüpft an ein uraltes Motiv in der antisemitischen Bewegung an.

STANDARD: Die Frage der Israelkritik beeinflusst auch die Frage der Begriffsbestimmung des Antisemitismus heute. Vor kurzem wurde ein neuer Definitionsentwurf veröffentlicht. Wie beurteilen Sie diese Jerusalemer Erklärung?

Longerich: Die Sorge des Papiers ist, unter welchen Bedingungen man überhaupt noch Kritik an Israel üben kann, um nicht als antisemitisch gescholten zu werden. Das ist eine Perspektive, die für Deutschland so nicht zu trifft. Wir haben die Situation, dass man in einer Umfrage für die Frage "Wenn ich mir die Politik Israels anschauen, verstehe ich, wenn man etwas gegen Juden hat" eine Zustimmung von über 40 Prozent bekommen kann. Ich nehme an, das ist in Österreich ähnlich. Wir haben das andere Problem, dass man in Deutschland nicht in Gefahr gerät, als Antisemit bezeichnet zu werden, wenn man Israel angreift, sondern es ist umgekehrt der Fall, dass in der Bevölkerung das weit verbreitet ist und vermischt wird. Somit ist diese Erklärung wenig hilfreich.

STANDARD: Mit welchen Problemen haben wir es stattdessen zu tun?

Longerich: Wir haben es mit einem traditionellen, tief eingewurzelten Antisemitismus zu tun, bei dem wir nicht genau wissen, wie die Tradierung vorgeht und wie wir sie brechen könnten. Das ist das Problem eigentlich, das für mich so eine Erklärung umfassen müsste.

STANDARD: Was auch in diesem Zusammenhang diskutiert wird, ist, inwiefern die BDS-Bewegung antisemitisch ist. In Ihrem Buch kommen an mehreren Stellen in der Geschichte Boykott-Aufrufe vor. Sehen Sie hier Parallelen?

Longerich: Die BDS-Bewegung strebt ein Ende des Staates Israels an, wie er heute besteht. Ich sehe die BDS-Bewegung als Teil des Kampfes der Palästinenser gegen diesen Staat. Die Abschaffung Israels hätte fatale Folgen für die Bürger dieses Landes, ich will mich nicht daran beteiligen, hier einen feinsinnigen Unterschied zwischen Antisemitismus und Israel-Feindschaft zu ziehen. Das führt in die Irre, das auseinanderzuhalten ist untauglich. Gerade in Deutschland ist die Bewegung auch deswegen nicht so erfolgreich, weil das Stichwort Boykott Erinnerungen an die nationalsozialistische Bewegung und ihre Vorläufer weckt. Diese Assoziation kommt einfach auf. (Sebastian Pumberger, 30.4.2021)