Screenshot: Nier Replicant
Screenshot: Nier Replicant
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Screenshot: Nier Replicant

Yoko Taro ist ein seltsamer Kauz. Der japanische Game-Designer, Schöpfer der Action-Rollenspiel-Reihen Drakengard und Nier, lässt sich ungern fotografieren und tritt der Öffentlichkeit deshalb seit Jahren nur maskiert entgegen – mit einem riesigen Schaumstoffkopf, einer Figur aus seiner Nier-Reihe entlehnt. Auch abgesehen davon ist der 51-Jährige unkonventionell, und das zeigt sich vor allem in seinen Spielen: Typisch japanische Anime-Figuren wälzen bemerkenswert düstere, ausdrücklich philosophische Themen, die sich erst nach mehrmaligem Durchspielen richtig erschließen.

Mit Nier Automata gelang Yoko Taro 2017 überraschend der Sprung vom ewigen Japan-Geheimtipp zum Welterfolg: Das Action-Rollenspiel mit den androgynen, aber sexy Androiden verkaufte sich 5,5 Millionen Mal und faszinierte ein globales Publikum. Nun ist der direkte Vorgänger dieses Welterfolgs als aufwendiges Remake erneut erschienen.

Schon bei der Vorgeschichte von Nier Replicant ver.1.22474487139…, so der volle Titel, wird es kompliziert: Das 2010 als Ableger der Drakengard-Reihe erschienene Spiel existierte in zwei verschiedenen Versionen. In der dem westlichen Markt angepassten Version war man als erwachsener Krieger der Vater des kranken Mädchens Yonah. Das jetzige Remake nimmt sich die japanische Ausgabe zum Vorbild, in der man stattdessen ihren Bruder verkörpert – eine großteils rein optische Veränderung.

IGN

Wiederspielen erwünscht

Spielerisch ist Nier Replicant, seiner Entstehungszeit entsprechend, ein recht klassisches Open-World-Rollenspiel: Auf der Suche nach Heilung für die an einer mysteriösen Krankheit leidende Schwester durchstreift man eine riesige Welt, in der sich Fantasy und Science-Fiction-Elemente vermischen. Genretypisch gilt es zahllose kleine und vor allem beeindruckend große Monster mit Waffengewalt und Magie zu bekämpfen, den eigenen Charakter zu pflegen und auszurüsten sowie jede Menge große und kleine Quests für die Bewohner dieser Welt zu erledigen.

Was Nier Replicant ebenso wie seinen berühmten Nachfolger Automata auszeichnet, ist die wendungsreiche Geschichte, deren Komplexität und Hintergründe sich nicht in einem einzigen Spieldurchgang aufdecken lassen. Wie bei Automata warten auch hier beim wiederholten Durchspielen teils verblüffende Überraschungen und neue Einblicke in die hintergründigen Charaktere und Geschichten; wenn nach knapp 20 Stunden der Abspann läuft, gibt es also noch gute Gründe, ein weiteres Mal zu starten. Wer jedes der fünf Enden sehen will, ist dementsprechend eine ganze Weile beschäftigt – inklusive Abkürzungen gut dreimal so lang.

Abgesehen von der an heutige Standards angepassten grafischen Gestaltung wurde nicht fundamental am Original gerüttelt. Eine der grundlegenden Änderungen des Remakes, das Yoko Taro selbst eher als "version upgrade" bezeichnet haben möchte, betrifft die Kampfmechaniken, die sich in Sachen Geschwindigkeit und Steuerung deutlich an jenen von Automata orientieren.

Was ist gelungen?

Nier Replicant ist dank neuer Animationen, größerer Sichtweiten und grafisch zeitgemäß hübsch inszeniert, doch vor allem in Sachen Audio hat sich der Sprung ins Jahr 2021 ausgezahlt: Der legendär gute Soundtrack wird nun von noch umfassenderer Sprachausgabe für jeden Charakter begleitet. Auch die Kampfmechaniken haben wie erwähnt eine Anpassung an die Standards von Automata erhalten; dass sich nun die Kampfzauber nahtlos während der Action einsetzen lassen, tut Geschwindigkeit und dem Flow absolut gut. Auch die für Yoko Taro typischen Perspektivwechsel, die den klassischen Third-Person-Blickwinkel plötzlich zur Seitenansicht oder gar zur Vogelperspektive samt angepassten Puzzle-Spielmechaniken verändern, sind gewohnt gut gelungen.

Zentral ist und bleibt aber die Geschichte, die nach etwas behäbigem Start mitreißt und hintergründig und emotional ist; mit Charakteren, die einem in ihrer Eigenwilligkeit ans Herz wachsen und für die man durchaus den mehrfachen Weg durch dieses Spiel auf sich nimmt – vorausgesetzt, man steht dem grundlegenden Japan-Style mit seinen androgynen, großäugigen Kinderhelden aufgeschlossen gegenüber.

Was ist weniger gelungen?

Wer JRPGs kennt, weiß um den Ballast des populären Genres: So gelungen die Hauptgeschichte ist, so banal sind die leider unvermeidlichen Nebenmissionen. Besonders zu Beginn zerren sinnlose Wege und mühsame, wenig attraktive Fetch-Quests an der Geduld. Je nach Toleranz für diese Art der Beschäftigung ist auch das wiederholte Abgrasen dieser Spielteile, um alle Enden zu sehen, für manche*n eventuell zu viel verlangt.

Auch wer sich in allen drei verfügbaren Waffengattungen perfektionieren will, muss sich auf repetitiven Grind einlassen, und das Upgrade-System durch magische Worte ist ebenso eher etwas für anspruchslose Buchhalternaturen. Die Verwaltung von Inventory, Upgrades, Quests und vielem mehr im sperrigen Menüdschungel ist überhaupt ein Ärgernis – leider ein genretypisches.

Windows-Spieler*innen seien außerdem vorgewarnt: Wie bei anderen Portierungen des Publishers Square Enix ist mit kleineren und größeren technischen Ärgernissen zu rechnen, die mal mehr, mal weniger trivial zu beheben sind. Framerate-Ärger, fehlende Unterstützung von 21:9-Auflösungen sowie diverse Performance-Probleme sorgen aktuell für Verbitterung bei Teilen des PC-Publikums – die Refund-Möglichkeit auf Steam in Anspruch zu nehmen ist hier gerechtfertigt.

Fazit

Dass Yoko Taro mit dem Erfolg von Nier Automata ein riesiges Publikum neu gewinnen konnte, gibt dessen Vorgänger die Chance, hier auf Hochglanz poliert ein zweites Mal ganz für sich zu bestehen – und das klappt angesichts des doch schon höheren Alters von Replicant ganz gut.

Wer japanischen Action-Rollenspielen nichts abgewinnen kann, wird hier sicher nicht bekehrt, doch sowohl Fans der Reihe als auch Neueinsteiger mit Lust auf japanischen Kult werden mit Nier Replicant ein Spiel mit viel Herz und eigenständigem Charakter neu entdecken. (Rainer Sigl, 2.5.2021)

Nier Replicant ist für Windows, PS4 und Xbox One um 59,99 Euro erschienen.