Marlene ist 56 Jahre alt, arbeitet samstags in einer Trafik – und bereitet sich derzeit mit Hormonen auf ihre Geschlechtsangleichung vor.

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Ein Haushalt in der Sperrgasse nahe der Schmelzbrücke in Wien XV, April 1965: Eine 16-jährige Mutter hatte bereits ihren ersten Sohn zur Welt gebracht, der nach wenigen Monaten starb, da gebar sie schon ihren zweiten, und die Eltern nannten ihn Manfred. Eine tuberkulöse Entzündung des Knochenmarks überlebte auch er nur knapp, sein rechtes Bein aber wuchs nicht mit und blieb um 16 Zentimeter kürzer als das linke. Als er drei Jahre alt war, ließen sich die Eltern scheiden, und das Kind kam zu den väterlichen Großeltern, die eine kleine Greißlerei in der Herbeckstraße im 18. Bezirk hatten. Seine Mutter sah Manfred danach 25 Jahre nicht mehr. Als er wieder Kontakt zu ihr aufnahm, wusste Manfred längst, dass er eine Frau war. Aber es sollte noch Jahrzehnte dauern, bis er sich sein Frausein zu leben traute und sich Marlene nannte.

Kindergarten und Volksschule verbrachte er, das "Mädchen im falschen Körper", bei den Schulbrüdern in der Gebrüder-Lang-Gasse, wo er wegen seiner Behinderung diskriminiert wurde. "Das kann sich keiner vorstellen, ein Albtraum mit Rohrstaberl." Die Mitschüler haben ihn gequält, die Lehrer verschanzten sich hinter der Türe und warteten, bis er verzweifelt mit der Krücke zuschlagen würde. Dann spotteten sie über "die armen Körperbehinderten, die sich nicht wehren können".

Mit acht Jahren, vor seiner ersten Beinoperation, schleiften Schulkollegen ihn auf den Gürtel und warteten, dass ein Auto ihn überfährt. "Ich habe so viel erlebt, eigentlich überlebt", sagt Marlene heute. "Und immer war es hardcore."

Ein Hardcoreleben

"Mit drei Jahren wusste ich, dass ich ein Mädchen war", erzählt sie. Der geliebten Großmutter wusch, schnitt und legte Manfred die Haare, da war er dreizehn. Er war traurig darüber, nie Kinder bekommen zu können, denn ihm fehlte der Körper dazu. Die Schwulen der Szene, in die er sich integrieren wollte, lehnten ihn auch ab, weil sie einen schwulen Mann wollten, was er nicht war. Als Manfred mit 16 seinen besten schwulen Freund fragte, wie er ihn denn als Mädchen fände, meinte der: "Na, des tät i net wollen." Dabei sprach auch er längst über "die Rote", wenn Manfred gemeint war.

Es folgten Jahre der Unsicherheit und Qual, ungezählte Operationen zur Beinverlängerung, orthopädische Schuhe und Schienenstützapparate. Mit 27 waren seine Beine beinahe gleich lang. Und Manfred verstand endlich, dass er kein schwuler Mann war, sondern eine heterosexuelle Frau, die Männer liebte.

2003 begann Marlene, immer noch als Mann und unter ihrem Taufnamen, als Lebens- und Sozialberaterin zu arbeiten. Sie machte eine "Ausbildung nach Rogers", deren Kernelemente Authentizität, Akzeptanz und Wertschätzung sind: "Von Menschen nicht zu erwarten, einen Teil ihres Selbst quasi als Sackerl vor die Türe zu stellen und dann wieder mitzunehmen, wenn sie gehen."

"Es ist eigentlich fast immer Hilflosigkeit, die Menschen negativ auf mich reagieren lässt." – Trans-Frau Marlene

Das war ihr Thema, denn Marlene selbst ist immer nur mit vielen Vorbehalten akzeptiert worden, "wirkliche Annahme empfand ich nie", erzählt sie ohne Bitterkeit. "Meine Großeltern und Eltern haben ihren Manfred geliebt, aber mich, die Frau, haben sie abgelehnt." Abgelehnt haben auch viele ihrer Freunde, die selbst Psychologie studiert hatten oder in der Sozialarbeit tätig waren, dass Marlene nun selbst in diesem Bereich tätig sein wollte. Sie wandten sich von ihr ab.

Die heute 56-Jährige arbeitet "mit Menschen, die Rat, Hilfe und Beistand brauchen". Ihre Beobachtung dabei: "Immer mehr Menschen hängt es immer öfter die Kette aus. Herausforderungen zu bewältigen und das Leben zu meistern, das gelingt immer weniger." Viele dieser Menschen kommen "wie eingetrocknete, zertretene Pflanzerln zu mir ins Coaching". Marlene pflegt sie dann, bis sie wieder blühen. Über sich selbst sagt sie: "Ich habe jeden Tag den glücklichsten Tag meines Lebens. Es liegt nur an mir, was ich daraus mache."

Mit 50 schließlich wagte sie den finalen Schritt. Sie wollte endlich 24/7 als Frau leben und ihr wahres Selbst nicht mehr verleugnen. Nur in die Trafik, in der sie samstags zusätzlich arbeitete, kam sie immer noch als Mann verkleidet: "Wir hatten so viele verschiedene Kunden, so viele Ethnien, so viele Religionen", erzählt sie. "Ich wußte nicht, wie die reagieren würden."

Halten die Kunden das aus?

Vor zwei Jahren aber, auf dem Weg zu einem Termin, offenbarte sie sich auch ihrem Chef: "Ich will nicht mehr als Mann bei dir da drinstehen." "Dann kommst du halt als Frau", sagte er. "Und wenn’s die Leute nicht aushalten?" Aber alle hielten es aus. Außer vereinzelt alte, weiße Männer ab 70 aufwärts. Und – leider – die meisten ihrer schwulen Freunde, die es nicht ertrugen, "ihren Manfred" zu verlieren. "Es ist eigentlich fast immer die Hilflosigkeit", sagt sie, "die Menschen negativ reagieren lässt."

Marlene achtet sehr auf ihr Äußeres, sie steht besonders früh auf, um sich herzurichten: "Ich will nicht, dass verzweifelte Kinder am Rockzipf der Mutter ziehen und schreien: Mama, ein Mann im Kleid!" Sie trug immer Businesslook, auch in der Disco. "Mich hat es nie als Dragqueen gegeben, das bin ich nicht."

Gewand hat sie genug im Schrank, auch wenn sie sich "jetzt wieder hineinhungern muss". Seit sie nämlich zweimal täglich Hormone schmiere, um sich auf die Geschlechtsangleichung vorzubereiten, habe sie "zehn, zwölf Kilo zugenommen". Außerdem sei sie "wesentlich kälteempfindlicher geworden, und beherrschen kann ich mich auch nicht mehr so wie früher". Diskussionen wich sie aber ohnehin nie aus, "mir ist kein Streit zu schmutzig", sagt sie. Wenn sie hingegen jemand mal mit "er" oder "Manfred" anredet, ist sie deswegen nicht beleidigt. "Und demonstrieren braucht dann auch keiner wegen mir", lacht sie.

Engagement als Trans-Frau

Marlene hat zu viel er- und überlebt, um auf Herausforderungen mit Befindlichkeit zu reagieren. "Es ist ja nicht so, dass ich irgendwann nicht aufgefallen wäre, auch wenn ich nie mit Transparenten herumgerannt bin", lacht sie. Nun will sie sich als selbstbewusste Trans-Frau verstärkt politisch engagieren, "konstruktiv, proaktiv, so wie ich eben bin". Sie war immer – "No na net!" – links angehaucht, "aber die heutigen Roten sind nimmer mehr wirklich rot". So denkt sie an Kabarett oder Workshops, um "die humanitäre Grundphilosophie der Linken auch und gerade den Linken wieder in Erinnerung zu rufen". An klaren Worten wird es ihr dabei nicht mangeln. (Manfred Rebhandl, 29.4.2021)